1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Zugabe
1. Kapitel
verlautet in einem vagen Diskurs Dorion Halis durch ein ungenanntes Ereignis geschädigtes Gemüt.
„Erinnerst du dich?“, hauchte die Stimme.
„Nein.“, entgegnete Hali kühl und starrte in den glühenden Kamin, vor dem er im Schneidersitz gekrümmt und in sich zusammengefallen saß.
Die Stimme: „Doch, tust du.“ Ein fadenscheiniges, süffisantes Grinsen machte sich vor Halis innerem Auge breit. Dann wurde das Kaminfeuer zur gewaltigen, prasselnden und heißen Lohe, die Funken schlug und todeslechzende Brünste um sich warf, die den Geruch von brennendem Fleisch schadenfroh verteilten. „NEIN!!!“ – „Schrei nicht so, sonst weckst du noch Akora.“, flüsterte es wieder. Hali führte eine wischende Handbewegung vor seinem Ohr aus. Halbherzig, denn er wusste, das, was da war, das konnte er nicht wegwischen. Das saß tief drinnen. Und dort hauste diese immer wiederkehrende Qual, diese fleischlose Furie, die allnächtlich ihr faules und dunkles Refugium irgendeines Winkels der Seele verließ, um Halis Gedanken und Träume heimzusuchen. Nicht einmal, wenn er die Nächte durchwachte, war er sicher. Er tastete mit zitternder Hand nach seinem Flachmann. Leer. „Das helfe dir auch nicht weiter, tränkest du es …“, zischelte es von einem Ohr zum anderen. Zu Anfang wurde Hali noch paranoid und schaute nach jedem Schatten, jedem Winkel, jeder Nische. Nun nicht mehr, denn er wusste, der Kampf fand nur in seinem Kopf statt.
Dieser schwarze Keim, er wäre nur halb so schrecklich, wüsste er nicht etwas, was sonst nur Hali selbst wusste und was sonst auch besser niemand wissen sollte. Ja, die Schuld ist eine vielschneidige Waffe mit dürftiger Präzision. Wäre sie wenigstens sofort tödlich, die Betroffenen würden es ihr wahrscheinlich kaum verübeln. „Warum bin ich noch am Leben?“, das fragte Hali sich oft. „Weil du ein gieriger, wollüstiger Hedonist ohne Skrupel und Manieren bist!“, meinte die Stimme spöttisch. Zu sich selbst indessen sagte Hali: „Vielleicht, weil wir von den Göttern mit Hoffnung und Lebenswillen beschenkt sind. Und wäre ich auch gleich einem engherzigen und selbstbezogenen Tier, hätte ich selbst dann nicht noch den göttlichen Geboten nach ein Anrecht auf mein Dasein, selbst wenn viele und vielerlei mich zu verzehren begehrten?“ Hali spürte, dass dieses dunkle und tumorartige Gespinst seines Kopfes Gefahr lief, ein Schössling des Einen zu werden, auch wenn es davon noch weit entfernt war, weil Hali so schwach noch lange nicht wahr. Warum aber war er bis heute nicht zur Kirche der Sahor konvertiert, dem wohl größten Erzfeind Angamons? Denkbar seine Scham, sich jemandem anzuvertrauen. Nicht einmal den Göttern. Obwohl er bislang eher Defizite aus den zweiseitigen Elementen zu verzeichnen hatte, gerade, was das Feuer anging … Und da stieg es wieder auf. Der Brand, den nicht einmal die widerliche Herbstnässe zu löschen vermochte. Der Geruch des Todes und das Gelächter und Getrappel, die Schreie von Menschen, breitgetragen vom Wind. Schlamm und Dreck, vermengt mit Blut und Fleischfetzen. Eine widerliche und ekelerregende Brühe des Wahnsinns. Hali schüttelte sich kurz, stand auf und legte sich ins Bett, als ob dieses ein gefeiterer Ort sei.
Diesen Teufel musste er sich austreiben, das wusste er bereits vor Jahren. Aber wie, wenn er niemandem das nötige Vertrauen zusprach? … Auf Dauer würde er diesen inneren Krieg jedenfalls verlieren.
2. Kapitel
ist der Geschichten zweiter Streich, der zu einem Stücke erklärungsarm obgenannte Handlung fortführt und vom Birkensang handelt.
Hermia. Ja, so hieß jene, die unter vielen ihren Tod fand. Auch wenn Hali nie ganz sicher sein konnte, dass sie wirklich tot war, denn stark verkohlte und zugleich aufgeweichte Leichen lassen nur schwerlich auf den einstigen Besitzer dieser sterblicher Hülle schließen. Nun aber hatte Hali sich Akora anvertraut und ihr vom einstigen Gräuel, das er miterlebt hatte, berichtet, derer Verschuldung Last er meinte zu einem Teil zu tragen. Obschon sie viel zu sticheln hatte, im Nachhinein fragte Hali sich, warum er dies nicht eher erzählt hatte. Er war ein Dummkopf, wo sie ihm doch in vielerlei Hinsicht manchmal mehr vertraut hatte, als er meinte verdient zu haben, ja, er war es ihr beinahe schuldig gewesen. Jetzt, da es eine in die Geschichte Eingeweihte gab, würde wohl in diesem Belang jeder Trost wie Balsam und jeder Tadel wie Stiche sein. Bislang hatte er keines von beiden erhalten, und doch schien ihm alles nun ein kleinwenig erträglicher. Die darauffolgende Nacht fand er sich von neuem Mut beseelt, seinem innersten Feind entgegenzutreten, wie ein Feldherr, dem ein weiteres, stattliches Heerbann zu Hilfe eilt. Auch wenn er gegen sich selbst kämpfte, gegen einen Teil von sich, der Vorwürfe macht, anstatt zu verarbeiten und der Erniedrigung anstelle von Ermunterung säte. Ein Selbsthasser im eigenen Kopf. Hali stand wie vor einem Spiegel, und im Spiegel, da sah er eine Täuschung: Jenen inneren Verhöhner. Doch dieser wiederum wähnte sich auf der Seite der Wirklichkeit und den alten und zweifelnden Hali auf der anderen Seite als ein Trugbild, eine Lüge. Doch keiner wagte sich zu diesem Zeitpunkt abzuwenden, denn noch war die Unsicherheit zu groß, sich irren zu können und folglich ins ewige Nichts zu fallen (denn was sonst sollte auf der unwirklichen Seite sein?), anstatt, vom Spiegelbild abgewandt, zur Wirklichkeit zurückzukehren. Am nächsten Morgen streifte Hali nach dem alltäglichen Bad im Teich durch den Wald, bis er zu einer Birke kam. Sie schien noch nicht sehr alt und maß vielleicht drei Schritt gen Himmel, ihr Stamm war zum Teil von Moos bedeckt. Sachte bog sich der Baum im Wind und die kleinen Blätter raschelten leise, wie sie so wackelten und tanzten. Da stimmte Hali plötzlich ein Lied an, das ihm von früher, der unbekümmerten Zeit seiner Kindheit und Jugend, schlagartig einfiel. Er sang es mit kräftiger, tiefer Stimme und es schallte sicherlich weit über die Wipfel der Bäume hinweg.
Birke, Birke, die du bist
Mein liebster Baum von allen,
Wenn dich auch die Säge frisst,
So sollst du mir gefallen!
Deine Borke ist gar weiß,
Die an Licht erinnern kann.
Ist nicht wichtig wie ich heiß,
Bin doch nur der Weidenmann.
Ja, die Birken fragen viel,
Die Weißen wollen Wissen.
Ihrer Seelen größtes Ziel,
Das suchen sie verbissen.
Suchen es an jedem Moos,
Sogar im Waldmannskissen.
Ihre Nasen wirst nicht los
Und hast du auch geschissen.
Rastest du einst ausgelaugt,
Im Walde nur zu pissen,
Wirst von Birken ausgeraubt
Und Sorgen du vermissen!
Birke, Birke, die du bist
Mein liebster Baum von allen,
Wenn dich auch die Säge frisst,
So sollst du mir gefallen!
Deine Borke ist gar weiß,
Die an Licht erinnern kann.
Ist nicht wichtig wie ich heiß,
Bin doch nur der Weidenmann.
Als er diesen Sang zuende gesungen hatte, da fand sich Hali schon vor Falkensee. Da betrat er wieder das Reich der Menschen und Elfen und anderen zweibebeinten Stadtgeschöpfe (und den vierbebeinten Ratten). So stürzte er sich also ins Gewusel der Massen, um seiner Lieblingsbeschäftigung unter jenen nachzugehen, dem Dummschwätzen und Scherzen.
3. Kapitel
kommt des Kummers Tröstung näher und berichtet vom Baum des Lebens.
Lacht man, so lacht die Welt mit einem, weint man, dann weint man allein. Aber zwei Schicksale, und stimmen sie auch nur im Kern überein, können doch verbinden, oder wenigstens das Verständnis des einen für den anderen schärfen und vor allem das Gefühl geben, dass man doch gar nicht so einsam in der beklagenswerten grauen Welt, der unbarmherzigen Wirklichkeit des Seins ist. Der eine findet Trost bei den Göttern, ein anderer bei seinesgleichen. Der vergangene Tag war richtungsweisend. An diesem aus Halis Sicht so ironischen Tag der Liebenden führte ihn sein Weg nicht in die Kirche, die Güte und Barmherzigkeit und den Segen der hochheiligen Sahor, der allmächtigen Götter und vor allem der lieblichen Vitama einzuholen. Nein, das Schicksal führte ihn ins Zwiegespräch mit einem Menschen wie jedem anderen. Nicht zu messen an der Macht und Pracht eines Gottes, aber doch so unermesslich und unersetzlich, so greifbar und nah. Jedoch kann ein Gott, so meint man, immer bei einem sein, den Weg geleiten und die Hand reichen um aus dem Schlamassel des Alltags und der Verdrusse zu helfen. Ein Mensch bleibt ein Mensch, dessen Präsenz einen anderen Menschen nur unwesentlich auf spiritueller Ebene begleiten kann. Umso schmerzlicher daher ein Abschied, umso beklagenswerter ein Verlust. Fast schien es Hali, als liefe aus einer Bindung (die jäh und gewaltsam zerbrach) nur einer anderen, obschon sich von ersterer unterscheidenden in die Arme, welche in diesen gefahrvollen Zeiten ebenso zerbrechen könnte, wie jene zuvor. Ein menschliches Laster, ohne Zweifel. Nur wenige vermögen mit der Zeit eine Gleichgültigkeit und Härte gegenüber tieferer Vertrautheit zu entwickeln. Jene die es nicht können (Hali gehört zu ihnen) schöpfen aber sicherlich Kraft aus Freundschaftsbanden (und ähnlichen oder tiefgreifenderen), und stünde diese noch so arg auf Messers Schneide. Leben und Zuneigung. Zwei Dinge, die zwar entfernt etwas miteinander zu tun haben, sich aber im Grunde so schrecklich fremd sind. Hali hangelte sich durchs Geäst des Lebens und mit jedem Fehlgriff oder jeder Resignation stürzte er ins Meer der Depression zurück, um dann abermals hinaufzuklettern – wohin eigentlich? Manchmal ließ er sich einfach unten treiben, wegen eben dieser Frage, deren Antwort sich ihm nicht aufzeigen wollte. Und eigentlich tat sie es immer noch nicht.
So viel Gedankengut, das die Welt nicht weiterbringt. Hali rieb sich die Augen und gähnte. Wie lange hatte er gegrübelt? Fela hatte sich schon geneigt. Er selbst war allein im Ordenshaus des Wachenden Löwen, die anderen trieben sich irgendwo draußen herum. Blinzelnd blickte Hali an sich herab. Er steckte noch immer in der nagelneuen Uniform. Dass er sie selbst zusammengenäht hatte, sah man deutlich an den extrem festen, aber unsauberen Nähten; er selbst erkannte sein Zeug jedenfalls sofort daran. Er legte sich zur Ruhe. Nur schwach drang der übliche Marktlärm durch die Fenster hinein. In der darauffolgenden Nacht hatte Hali einen Traum. Darin sah er einen großen Baum mit Wurzeln, die tief in den Boden reichten. An diesen, tief im Dreck der Erde, hockten die Bauern an festen Orten, während die Heimatlosen von einem Ende zum anderen wanderten und doch nichts erreichten. Nach oben erhob sich ein gerader Stamm, arm an Ästen und Zweigen. Daran gesuchten viele hinaufzuklettern, denn auf luftigerem Astwerk saßen Werkelnde, aber auch Soldaten. Von jenen wiederum bahnten sich manche einen Weg nach weiter oben, wo Leute in feineren Kleidern mit scharfen Schwertern saßen. Schafften sie es, sich irgendwo weiter oben festzuklammern, rückte an ihrem alten Platz einer nach. Manchmal musste der Nestbesitzer auch hinausgeworfen oder umgebracht werden und nicht minder viele stürzten bei ihrer waghalsigen Kletterei hinunter auf die Erde. Ganz oben in der Krone des großen Baumes saßen Herzöge und Fürsten mit güldenen Zeptern und Hochgeweihte, unter ihnen und ebenso auf glatten Ästen saßen Ritter und hohe Beamte. Zu manchen hin war das Holz so glatt wie jenes, das zu den Herzögen und Fürsten führte, sodass man keinen Halt zu finden vermochte. Und ganz oben, auf der Spitze des ganzen, da thronte der König unter luftigem Himmel und heller Sonne.
Hali stand nur als ein Beobachter vor diesem Gewächs mit seinen zahlreichen wuselnden Figuren, die dort eifrig kletterten, schubsten und fielen. Wo er selbst sich befändt, das sah er nicht. Weit oben wäre es jedenfalls sicherlich nicht.
4. Kapitel
erzählt vom Wunderding Fela und dem Spiegel im Wasser.
Eines Morgens. Der nächste, um genau zu sein. Hali erwachte, ging in aller Früh zum städtischen Badehaus und spazierte bei spätem Morgengrauen durch den Wald. Auf der Brücke im Westen blieb er stehen und sah zur Stadt zurück. Flammend ging darüber Fela auf. Vom am Tag zuvor niedergebrannten Haus stiegen nur noch ein paar vereinzelte und fahle Rauchwölkchen auf, die sich im Äther verflüchtigten. Fast etwas zynisch kroch das Morgenlicht über den Dächern empor, arglos und schön wie eh und je. Fela, wo gehst du hin, wenn du hinter dem Horizont versinkst? Es ist, als würde dich der Kosmos der Sphären in jeder Nacht von allen Sorgen und Lastern reinwaschen. Und hat man am Vortag auch einen Eingekerkerten mit deinen Strahlen geblendet, geht ein Wald in Lohe auf oder sei auch das Geschlecht der Menschen ausgestorben, du erhebst dich wieder, genährt von einer Urkraft, und lächelst mild auf jene, die noch da sind. Fast als nähme dir jemand Erinnerungen, Ärgernisse und alle Laster ab, auf dass du am Folgetag beinahe neu geboren wirst. „Wahrlich, das ist wundersam! Ein Wunderding bist du.“, meinte Hali, als er so allein auf der Brücke stand und schaute. Wir Menschen gleichen dir wenig, Fela. Zwar besteht das unsere Leben auch aus Tagen und Nächten, wir steigen und sinken zur Höhe des Himmels und in die Abgründe des Ungewissen, aber vermögen wir es kaum zu vergessen, wenn ein Tag uns schrecklich verblühte, anstatt in Würde zu verstreichen (wenngleich uns selbst das wenig beliebt). Zwar merken wir uns auch die schönen Tage, doch was hilft es uns, wenn die Erinnerungen an die schlechten uns quälen. Du aber, Fela, schaust nur voraus. Denkst nicht daran, wie du heute aufgingst, sondern wie du morgen aufgehen wirst. Verschwendest keinen Gedanken daran, wie traurig doch dein Untergang gestern noch war, sondern genießt, wie herrlich und erhaben du eben jetzt ganz Tare erhellst! In der Tat sind wir doch ärmlich. Steigen an der Leiter des Lebens herauf und zerbrechen uns den geschundenen Kopf über Sprossen, alte Stufen, die unter uns liegen, wo doch unser Weg nur vorwärts, nach oben führt. Auf, nach oben, zu den Göttern, zu den Monden, rauf zu Fela! Ein ehrlich Leben, sei’s erfolgreich oder arm, ist Sieg, Triumph, wenn wir nur weitergehen!
Das dunkle Wasser glitzerte orange und gelb und plätscherte glucksend am Uferrand, wo es über Steine stolperte und von Fröschen durchkämmt wurde. Hali ließ seinen Blick nach unten schweifen. Er blickte in sein Spiegelbild, welches über den finsteren Schatten der Brücke hinwegschaute. Eine weile starrte er; das war nicht bloß sein Spiegelbild. Es war sein Feind. Der Selbsthasser, der Welthasser, der Verlogene, der doch so oft recht zu haben schien. Gemein und hinterhältig glotzte er aus dem Wasser heraus, das nun ganz dunkel und glatt wirkte. „Hallo.“, sagte das Spiegelbild mit herablassendem Unterton. Die ganze Welt schien nun im Wasser gespiegelt und man konnte kaum mit Sicherheit sagen, ob man nur in einen Spiegel schaute, oder selbst im Spiegel war. „Du denkst zu viel nach!“, fuhr es fort. „Gib auf, was soll das? Glaubst du wirklich an das gute in der Welt? Glaubst du ernsthaft, dass du jemals wieder aufrichtig fröhlich sein kannst? Es gibt nichts, das liebenswert ist! Man tut besser daran, zu hassen. Es macht beinahe unverwundbar, wenn du allem mit Argwohn und Abneigung entgegentrittst, als dich solchen Kleinlichkeiten wie ‚Liebe’ oder ‚Freude’ hinzugeben. Die beste Freude ist der Spott! Du hast erlebt wie die Welt ist. Sie ist grausam und erbarmungslos. Sie hat dir weggenommen und dich betrogen. Aber das konnte sie nur, weil du einfältig und verletzbar warst. Werde wie die Welt, und du wirst zufrieden sein.“ – Hali senkte die Augenlider resignierend. „Ja. Das stimmt. Dann würde ich wohl zufrieden sein.“ Triumphal lächelte die Fratze im Wasser und glich dem alten Hali in keiner Falte mehr. Doch als diese Fratze von einem Mann sich umwandte, als wolle sie in die Wirklichkeit gehen und als wähne sie den alten Hali nur als ein närrisches Spiegelbild, verzerrt im Tanz des Wassers, da fuhr dieser fort: „Aber ich will nicht zufrieden mit einer Lüge leben.“ Und der Mann im Wasserspiegel fiel tot um, verschlungen vom Nichts, als hätten ihn diese Worte tödlich im Rücken getroffen. Hali blinzelte und hob die Lider wieder. Jedoch war da nichts im Wasser. Nur ein funkelnder Widerschein seiner selbst. Er hatte das Spiel gegen sich selbst gewonnen (wer weiß, ob es das letzte war), auch, wenn ihn das über steinigere Pfade führen würde. ‚Auf rauen Wegen zu den Sternen.’
5. Kapitel
untersucht Tares unglaubliche Gesetzmäßigkeiten und handelt von theologischer Denkerei.
Wenn Taubenpaare scheinbar liebevoll turteln, dann wirken sie zuweilen geradezu menschlich. Umso menschlicher wirken sie noch, wenn sie urplötzlich übereinander herfallen, um sich mit ihren spitzen Schnäbeln totzupicken. Die Natur mit all ihren Geschöpfen ist auf Tare überaus vielfältig und faszinierend und so tun sich dem eifrigen Beobachter immer wieder nicht minder zahlreiche Fragen auf. Zum Beispiel, wen die Götter zuerst schufen: Die Fliegen und anderes surrendes Getier den Spinnen zum Mahle, oder den Fliegen und dem andren surrenden Getier zur Bremse? In beiden Fällen jedenfalls den Beflügelten zur Tücke. Den Beflügelten zur Tücke – solcherlei ist, Astrael weiß, uns auch nicht gänzlich unbekannt. Ja, es scheint sogar einer der wenigen roten Fäden zu sein, die sich durch die Welt ziehen. „Ei! Den Beflügelten zur Tücke…“, probierte Hali die Phrase einmal laut. Das ist wie, dem Reichen der Kummer, dem Liebenden die Trennung, dem Athleten die Lepra, dem Geistreichen der Schwachsinn, dem Admiral die Blindheit, dem Schönen rascher Verfall – wahrlich, das ist ein Gesetz der Natur! So wie man eine Tugend mit zwei Lastern erkauft, so nimmt einem die unbarmherzige Welt all das, was man zu viel hat. Bei so vielen Wesen ist Tare jedoch zuweilen schlampig und nimmt manchem zu viel und manchem zu wenig. Aber bevor eine Seele auf die Erde entlassen wird, widerfährt einigen Auserwählten besonderer Segen der Sahor. Wurde ihnen zuvor angeborenermaßen mehr gelassen, als genommen, so werden sie in der Regel später Könige und andere Regenten, Ritter oder sonstigen hohe Aristokraten. Bei den alten, buckligen und sehschwachen Eremitenheiligen kam nur das weltliche Geschenk zu kurz. Bei frühsterbenden oder verkannt bleibenden Talenten eher der Göttersegen. Und wem gar nichts zuteil kommt, der stirbt entweder, bevor er geboren wird, oder wird ein Taugenichts und Müßiggänger mit schiefen Zähnen, krummen Nasen und Warzen. Es sei denn, der Eine nimmt sich seiner an, dann verfällt er dem Unglauben. Das müssten wohl alle erdenklichen Extreme sein. Nun stellt sich aber die darauf logisch folgende Frage, ob das Netz des Lebens wirklich so einfach gestrickt sein kann, dass ein Mensch es zu verstehen vermag. Sintemal es sicherlich auch hässliche und dumme Leute aus hohem Hause gibt. Aber vielleicht wurden diese auch nur im Nachhinein als unwürdig erachtet. Die Wege der Hochheiligen sind unbestreitbar unergründlich für all jene, die nicht in den Genuss göttlicher Disputationen kommen können. Und selbst wenn man es als Sterblicher könnte, würde man daraus schlauer werden? Wahrscheinlich nicht!
Hali blinzelte traumtrunken und blickte sich hastig um. Er saß auf einem Baumstamm und starrte ins weite, tote Land. Nichts los. Aber er hatte sich an diesem Morgen als Wachtposten verpflichtet. Eigentlich war es witzlos, denn in der Liga, in der Hali einen Gegner im Kampfe schlagen könnte, waren eiserne Waffen ebenso wenig mit von der Partie wie mordlüsterne Kreaturen. Aber zumindest konnte er laut rufen. Über dem einsamen Lager inmitten dieser kleinen grünen Oase des unwirtlichen Ödlandes lag milchiger, feuchter Dunst. Seine Kleidung war klamm und die Haut schien vom Bad in dem kleinen Teich einfach nicht trocknen zu wollen. Hali wischte sich die unangenehme Nässe auf seinen taubenetzten Unterarmen breit, deren Ärmel er hochgekrempelt hatte. Bald stellte sich eine trockene Briese ein. Sie kam aus Richtung Norden, den Brachen des öden Landes, und drückte den Nebel aus dem im Vergleich dazu geradezu paradiesisch anmutenden Tal. Dieses unheilvolle Land konnte einen viel über Religion lehren.
Dies hatte unweigerlich zur Folge, dass Hali, der unverbesserliche Denker und Träumer, wieder vor sich hin philosophierte und auch über seine eigene Konfession nachzudenken begann. Vom Elternhause an war er im Glauben der Enhor erzogen wurde, obzwar die anderen Religionen Erwähnung fanden. Das, was er wirklich über die Viergöttlichkeit wusste, hatte er damals (bevor er in den Genuss diverser Bibliotheken kam) zumeist von den Geweihten eines nahen Sahortempels erfahren, wenn diese ihn eine Weile festhielten und moralische Standpauken hielten, weil er aus deren klösterlichen Gärten wieder versucht hatte, Birnen zu stehlen. Diskriminierung und gezielte Schikanierung von elementargläubigen Kinder nannte Halis Vater das immer. Hali selbst nannte es später kostenlose Bildung und infiltrationsartige Erkundung für den nächsten Obstklau. Von dieser Sichtweise her war er bei der Viergöttlichkeit immer besser weggekommen. Hali wollte gerade seine guten Erfahrungen mit den Enhor an den Fingern aufzählen, aber da ihm so schnell keine einfielen, begann er erst einmal mit den weniger erbaulichen. „Hm, der Wind, der uns damals das Dach wegfegte… mm, einmal fast im Beborn ersoffen, im Sumpf beinahe draufgegangen, und war da noch das Feuer in …“ – Hali stockte an der Stelle, um nicht wieder auf schlechte Gedanken zu kommen und schüttelte den Kopf kurz aus, als wäre ihm gerade etwas auf eben jenen gefallen. Es heißt, äußerliche Änderungen lassen auf Innere schließen, beziehungsweise, innere Umschwünge ziehen äußerlich sichtbare nach sich. Verhalten blickte Hali an seiner nagelneuen, blitzblanken und ordentlichen blauweißen Uniform herab. Er machte ein Gesicht, als hätte er sich gerade eben selbst durchschaut. Vor zehn Tagen war er noch wie ein vagabundischer Penner herumgelaufen und vor nicht mal einem halben Götterlauf noch hatte er auf Kirche und System geschimpft. Heute schob er Wache für einen königstreuen und der Kirche der Sahor verschriebenen Orden. Ob es daran lag, dass er eine schlimme Sorge über Bord geworfen hatte (obschon sie nicht vergessen war, aber Akoras Worte waren nicht ganz ohne Wirkung geblieben), oder daran, dass irgendetwas in seinen Kopf oder sein Herz gekommen war, darin war sich Hali nicht ganz im Klaren. Auf jeden Fall zog es einen Rattenschwanz von anderen Veränderungen in seinem Kopf nach sich. Noch nie hat ein Rattenschwanz den Geist eines Mannes derart beeinträchtigt!
6. Kapitel
erzählt ein wenig vom Perversen an pragmatischer Religiosität und von der Wertschätzung im Leben.
Es gibt unheimlich religiöse Leute, die fleißig beten, den Tempel besuchen und die Priester ehren, ebenso wie es wiederum Leute gibt, die ihrer kirchlichen Dogmen nicht ganz so ernst nehmen aber vielleicht dennoch fest in ihrem Glauben stehen. Eine Minderheit ist gottlos. Und wieder andere heucheln sich ihre Religiosität mehr oder minder selbst vor und sind eigentlich nichts anderes als Gottlose, denen ihre Konfession eine Art Gewohnheit ist. Hali fand sich nach reichlichem Abwägen irgendwie in keiner Gruppe ganz und gar wieder. Er befand sich, wenn man so wollte, in einer „Glaubenskrise“, obschon auf eher lächerlich platonischer Art. Wobei die Zahl solcher Leute auf der Insel Siebenwind in diesen Zeiten, da die Massen wie Vieh zum Götterhaus getrieben werden müssen, zuweilen doch erheblich größer schien, als man es erwarten könnte. Doch jene, denen ein Gruß im Namen der Götter nur eine Phrase ist, wo stehen sie im Gefüge, im Kampf gegen den Ungenannten? Ist die Angst vor diesem schrecklichen Feind das einzige Band, welches sie noch mit ihrer Religion verbindet? Oder ist es eher die Angst vor göttlichem Zorn am Tag des Zeugnisses? Kommen aber am Ende nicht alle in Morsans Hallen? – Ungeheuerlich. Auf der Basis solcher Gedankengänge wird die Religion zu einer perversen Formsache ohne Spiritualität. Hali, du denkst zuviel, vor allem zu viel Unsinn! Gehe lieber in die Kirche, die Götter um Vergebung für dein blasphemisches Dünken zu bitten, anstatt mit Marienkäfern über den Sinn des Lebens zu disputieren.
Als Hali gerade so sinnierte und durch das Ödland gen Feldlager ritt, von dem er am Morgen zeitweilig fortgeritten war, da stolperte er plötzlich über den scheinbar leblosen Körper eines Banneristen. Noch ehe er absitzen konnte, um sich der für jenen Mann so unglückseligen Situation anzunehmen, da stürmten auch schon wildgewordene Goblins auf ihn zu, sodass er erst nach Einbruch der Dunkelheit (günstigere Zeit fand sich nicht) mit einem Obergefreiten zurückkehren konnte, um den vollgerüsteten Körper samt Gepäck bis zu den Unterkünften des Walles zu schleppen. Was tut man nicht alles dafür, dass ein todgeweihter Körper nicht auf unheiligem Boden vermodert. Einen Dunkelzyklus schwerste Arbeit für den Dank eines Leutnants. Immerhin. Wenn man Ideale höher schätzt als Reichtum (und Hali tat das wohl), so kam unter dem Strich, abzüglich der Rückenschmerzen, des Zeitaufwandes und der Obliegenheit, einen Mann durchs tote Land zu schleifen, doch eine positive Bilanz heraus. Nach der spätabendlichen Patrouille fiel er schließlich erschöpft ins Bett. Einen Dank und einen Kuss auf die Wange hatte er verdient. Er war ein reicher Mann, auch wenn er sich bislang nichts vernünftiges davon kaufen konnte, abgesehen von etwas Selbstzufriedenheit. Hauptsache, er musste nicht verhungern, solange er noch ein paar Vorräte hatte und es da jemanden gab, der ihn durchfütterte. Mit einer anderer Einstellung zu Besitz als dieser könnte er wahrscheinlich nur schwerlich leben, denn wenn man kein wirkliches Einkommen hat, dann hat man es nicht gerade leicht, da es ein recht undankbarer Beruf ist, anderen das Leben oder den Leib zu retten, und die einzige regelmäßige Beschäftigung Halis die beim Orden des Wachenden Löwen war. Allerdings „ehrenamtlich“ (wie Akora es nannte), besser gesagt, hoffnungslos unbezahlt.
„Dieser Tage, da wir leben,
Müssen wir nach Hohem streben.“ – Ein kesser Reim, aber was ist etwas „Hohes“?
7. Kapitel
metaphorisiert das Selbstmitleid und erörtert die Frage danach, was etwas Hohes ist.
Aber was ist etwas „Hohes“? Mit dieser Frage ging Hali am darauffolgenden Tag zu Bett und als er erwachte, musste er feststellen, dass ihm über Nacht keine Erleuchtung widerfahren war und sich in seinen Geistesabwesenheiten kein Gott zu diesem Thema geäußert hatte. Die Nachtigall hatte zwar ihren Kommentar abgegeben, aber ihr Lied hatte definitiv von etwas anderem gehandelt. Nun stieg er gähnend aus dem Bett und verließ die fast schon aufdringliche Suhle aus träumerischer Melancholie und erdrückendem Selbstmitleid. Dieser Sud glich einer fetten, triefenden Wurst: Er mundete nur abends, am Morgen war er ekelerregend. Im Selbstmitleid ist das Leben um ein Vielfaches einfacher. Über die eigenen Laster kann man stets mit den Schultern zucken und still vor sich hin schweigen oder es auf die Schlechtigkeit der Welt schieben. Es hängt anscheinend stark von der persönlichen Veranlagung und den jeweiligen Vorlieben ab, ähnlich wie bei der Wurst. Das Selbstmitleid ist demzufolge die Wurst der Armen, das heißt jener, die sich keine Würste leisten können und mehr oder minder am Hungertuch nagen. Über diesen gedanklichen Umweg kam Hali, während er sich gerade im eiskalten Teich wusch, zurück zur eingangs gestellten Frage, was etwas „Hohes“ ist. Fürwahr. Sich umdrehend stellte er fest, dass Akoras Turm recht hoch war. Die Burg in Falkensee war es auch, oder das imposante Badehaus. Ganz zu schweigen von den Mauern der Stadt, dem Tempel und eigentlich allen anderen Gebäuden jenes Ortes auch. Auch der Äther reicht unermesslich hoch, oder der Flug der Vögel. Die meisten Männer Siebenwinds sind auch bemerkenswert hoch. Kam sich Hali mit seinen neun Spann daheim noch wie ein kleiner Riese vor, hatte er in seiner neuen Heimat ständig einen steifen Hals vom vielen Aufschauen. Aber nicht nur davon wurden Gliedmaßensteifheiten verursacht. Auch das erhöhte Vorkommen von bildhübschen, jungen Frauen macht dem gemeinen Manne zu schaffen, die sich zudem noch durch verschiedenerlei weitere Attribute auszeichnen, wie beispielsweise „Lachen mit unbeschreiblicher Wirkung“. Überall wo sich jugendliche Schönheit durch die städtischen Gassen windet, stolpern die übermäßig vorhandenen Herren über ihre eigenen Zungen und müssen ständig ihre herausfallenden Augen vom Straßenpflaster aufheben.
Aber das gesuchte Hohe ist eher etwas Abstraktes. Für den Idealisten jedenfalls. Der Materialist muss weniger weit an die Grenzen seines Verstandes gehen. Er trägt seinen Geldbeutel meist in bequemer Reichweite seines Armes am Gürtel, wahlweise tut es auch der Weg zur Bank. Die Geldpritsche Falkensees einschließlich dem Marktplatz ist der Mittelpunkt des Materialismus. Hier wechseln Waren Tag ein, Tag aus ihren Besitzer. Es ist ein pulsierendes Herz, welches den Reichtum durch alle Adern der Stadt und der Insel pumpt. Der Druck sei so stark, dass man edel gekleidete Mannen gar schon im Schandviertel sah. Ein Schild am Bankhaus dagegen weist dem Besitzlosen sofort, wo er steht: „Zutritt nur mit angemessener Bekleidung“ (sinngemäß). Hier trifft sich die obdachlose Kämpferelite, um ihr Gold zur Schau zu stellen, stolzieren edle Damen in Seide umher, die sich wenige Jahre zuvor noch in nassen Löchern von Rattenschwänzen nährten. Siebenwind, das gelobte Land. Das Land, in dem man kostengünstig unter den öffentlichen Sitzgelegenheiten schläft, um seine neue Mode zu finanzieren. Auf der Insel der Statussymbole gibt es immer wieder erstaunliche Umschwünge, sodass der wahrhaft Wohlhabende sich vom pöbelhaften Neureichen durch zerschlissene Fetzen abzuheben versucht. Den Höhepunkt der Bettlerromantik und Lumpenrenaissance bildeten die mutwillig zerfetzten Roben. Die Ritterschaft steuert solchem Frevel jedoch neuerdings mit findigen Verordnung entgegen. Etwas Hohes ist also überaus vielseitig und seine Bedeutung schwebt in der Ungewissheit des sich stets Wandelnden. Den Sahorgeweihten scheint es etwas Hohes, einen dem Unglauben verfallenen Blasphemischen dem Fegefeuer zu überlassen oder ihn auf der Stelle mit dem gerechten Schwert den Garaus zu machen, um seine verlorene Seele vom Unheil zu läutern. Einige Wankelmütige unter ihnen streben nur nach göttlicher Erfüllung. Die Macht an sich kann auch etwas Hohes sein. Sonst würde wohl niemand ein Ritter oder Beamter seiner Majestät werden wollen.
Viele belustigende Erinnerungen gingen Hali so durch den Kopf, als er mit nassen Haaren wieder die Treppe hinauf in die Stube tapste. Vor dem Spiegel hielt er inne und blickte zur Decke. Da, ziemlich genau über ihm, schlief eine Frau, zu der er seine Beziehung nur schwerlich beschreiben konnte. Mehr als nur bloße Freundschaft, aber auch keine fleischliche Begierde. Demnach eine Art „Liebe“ im Sinne einer engen Bindung (oder auch nicht; wie gesagt, er konnte es nur schwerlich beschreiben), wenngleich dieses Band auf Halis Seite weitaus unnachgiebiger schien, als auf der ihrigen. Er senkte den Blick wieder und schenkte dem Mann im Spiegel einen mitleidigen Blick. Eine imaginäre Person zu bemitleiden ist ein guter Schleier für Selbstprojektion der zugesprochenen Emotionen und Gedanken. Darum sagen manche Leute auch „Armer Irrer“ und meinen im Grunde sich selbst. Ach, warum müssen wir auf Tare nur so viel Leid erdulden? Nun, vielleicht, weil wir leben. Immerfort geht das Gute mit dem Schlechten, das Schöne mit dem Hässlichen und das Erbauliche mit dem Niederschmetternden, ja sogar die Tratschweiber mit der nächsten Görengeneration schwanger. Der Sinn des Lebens scheint nur darin zu bestehen, Morsans Hallen vollzubekommen oder dort, wo auch immer die Seelen der Menschen herkommen, Platz zu schaffen. Doch auf dem Weg dahin wird den ärmlichen Geschöpfen erbittert gezeigt, dass sie im Grunde nichts zu melden haben. Der Austragungsort dieses Dramas ist die erste Sphäre. Es wird erzählt, die Sahor selbst hätten diesen Ort, dessen Größe noch von keinem Scholar oder Geweihten erfasst wurde, nach der Erschaffung der Völker geräumt. Wohl, um ihre Ehrenplätze bei dem Spektakel namens Leben einzunehmen. Man sagt sich aber, dass die Elementarherren ab und an auf Tare vorbeischauen, vielleicht um selbst mitzumischen. Auch wenn Hali nicht wusste, ob er das gutheißen sollte oder nicht, war es doch ein kleiner Trost im öden Dasein. Einzig Morsan schaut nicht zu. Wahrscheinlich, weil er sich mit den Opfern des grotesken Schauspiels herumschlagen muss. Ein netter Kerl, einer muss es ja machen. „Potz, verdammt!“, stieß Hali aus. Jetzt war ihm eine seiner Frühstückskarotten unter den Tisch gefallen und Akoras Mieze missbrauchte sie sofort zur Stillung ihrer Mordlust, dem unschuldigen Gemüse mit einem gezielten Biss das Genick brechend.
8. Kapitel
lässt Gewitztheit außen vor, berichtet vom Dünken eines Verehrers der Trauer und verrät ein erfahrenes Geheimnis nicht.
Es scheint, dass man irgendwann alles schon einmal erlebt hat und sich die Dinge irgendwann nur noch wiederholen. So ging es Hali jedenfalls, als er des Abends wieder mal einen von Akoras unglückseligen Verehrern bergen musste, um ihn dann, natürlich unter Überwindung einer steilen Treppe, in ein Krankenbett zu verfrachten. Wie das Schicksal es so wollte, war das nächstbeste Bett in Akoras Turm. Dass der Betroffene völlig ausgemergelt war, galt Halis Kreuz angesichts der hünenhaften Statur des Mannes nur als ein schwacher Trost. Alashar, ein Schneider, aber verdammt schwer. Nach althergebrachter Fieberbehandlung dann, Hali hätte es sich denken können, musste er die Stätte räumen. Privatunterredung. Cen hatte sich schon davongemacht, wegen Selbstvorwürfen wohl, er hätte den sich vor der Welt Versteckenden nicht früh genug gesucht. Als Hali den ersten Schritt über die Türschwelle hinaus gemacht hatte, passte sich die Welt, anstatt wenigstens einmal Trost zu spenden, situationsgerecht an. Fela ging unter. Dann Regen. Und Kälte. Genau der richtige Zeitpunkt für eine Nachtwanderung, um auf klare Gedanken zu kommen. Er war nicht weit gegangen, da spürte er es schon. Die bekannte Einsamkeit. Ein Gefühl der Verlassenheit in jener erbarmungslosen Welt, die ihn immer wieder einholte. Er ging nach Westen, Richtung Meer, wo Fela irgendwo in weiter Ferne hinter dem Horizont versank. Ihm war, als gliche das Abendrot dem Blut eines abseitigen Mannes, den vom Weltschmerz geschlagenen Wunden entronnen. Die fahle Dämmerung mit ihrem kalten, blauen Licht und die Dunkelheit bargen etwas Mystisches, Trauriges. Eine Melancholie, die Hali einerseits liebte, die ihm andererseits aber eher Leid einbrachte. Manche Bitternis wird mit den Jahren zu Stein. Eine karge, unfruchtbare Brache im Herzen. Im Winter kalt und tot; und im Sommer auch. Eine von einem Tag nichts wissende, ewige Nacht. Und wenn man durch den eigenen Geist wandert, weil man meint, nichts besseres zu tun zu haben, dann trifft man auch wieder auf jene Orte, vor denen normale Leute sonst versuchen die Augen zu verschließen. Aber Hali ist nicht ganz „normgerecht“ (wer ist das schon). Blass fiel das Licht der Monde auf die ruhigen Wogen des Ozeans. Ein tränenschweres Schimmern, ein edler Glanz. Die Unendlichkeit und Weite der See hütete eine geheimnisvolle Stimmung.
Es ist wichtig zu wissen, dass Hali überaus empfänglich für derlei Mysterien ist. Er sucht sie regelrecht, badet sich in Verdruss, vergöttert den Schwermut. Nicht zuletzt darum konnte er seinen jetzigen Gemütszustand kaum jemandem vorwerfen. Weder Akora, die ihn hinausgeschickt hatte, noch Alashar, der sich bis zur Hilfsbedürftigkeit gequält hatte, um dieses Gespräch mit seiner Herzallerliebsten herauszuschinden. Natürlich hatte Hali schwere Zeiten erlebt, und der Verlust, den er hat einstecken müssen, ist unersetzlich, doch man kann nicht sagen, dass er wirklich versucht zu vergessen. Es scheint, als sei es eine Art witzloses Spiel, sich dem Trübsal hinzugeben, um dann (aber bei weitem nicht immer) wieder Wege zur Tröstung zu finden. Ein unverbesserlicher Hang zur Trauer. Freilich nicht, ohne sich so oft wie möglich über die Herzlosigkeit der Welt zu verständigen. Auf dem Nachhauseweg bemerkte er, dass seine „Liebe zur Melancholie“ jener nicht unähnlich war, welche die unnachgiebigen Akoraverehrer auslebten: Im Grunde eine schöne Sache, aber doch hoffnungslos und unbelohnt. Und in noch einem Punkt war beides sich ähnlich; in der Schuldfrage. Sicherlich ist die Liebe auf Vitama zurückzuführen, aber war Hali schuld an seiner Gemütsneigung? Liegt die Schuld nicht vielmehr abseits dem Irdischen? Waren jene Söldnertruppen, die seine einst neugefundene Heimat nieder brannten und seine einstige Frau töteten oder verschleppten, wirklich der Auslöser? Ja, vielleicht waren sie das, aber die Ursache konnten sie nicht sein. Auf der Insel Siebenwind gab es viele Waisen und Gepeinigte, die ein recht sorgenfreies Leben zu führen schienen. Die Ursache musste tiefer liegen, wohl schon in der Kinderwiege, sprich, es ward ihm von den Göttern mit auf die Welt gegeben. Geschenk oder Übel, das war schwer zu sagen. Alles geistliche musste schließlich irgendeinen Sinn haben und zum Guten verhelfen können. Andere Schicksalsgenossen ziehen aus, um Rache zu üben. Hali tat das nicht. Er verabscheute die Gewalt. Es war nicht auszuschließen, dass eben das die Gabe in der angeborenen Melancholie war.
Wieder daheim im Turm entschlief der Kranke gerade ins Reich der Träume und während Hali sich einen schweren Rotwein in den Hals goss, widmete Akora ihm noch einen Augenblick der Aufmerksamkeit. Sie schien nicht recht zu verstehen, als er ihr erzählte, wie er sich fühlte, doch vertraute sie ihm zu seiner Verwirrung ein bemerkenswertes Geheimnis an. Es war wohl als eine Art Trost gedacht, aber mit den gewichtigen Worten entschwand sie in ihr Gemach. Sehr unzufriedenstellend. Er schlief schlecht diese Nacht, verloren in wirren Gedanken und absonderlichen Träumen.
9. Kapitel
erläutert die Vorteile von Militarisierung und Feudalismus sowie die auf Siebenwind entstehenden gedanklichen Untriebe.
Es gibt zwei Kategorien von Menschen: Jene, die sich anpassen, und die toten. In einer Welt, da alle Loyalität einer Person, dem König gilt, spielt Hierarchie und Militarismus eine entscheidende Rolle. Denn andernfalls, wenn die verfängliche Freude des Einzelnen, beziehungsweise individuelles Wohlergehen die Ansprüche des Regenten geltend machten, so würde dieser sein Reich mit einem Heer von Kaspern, Schaustellern und Spielleuten zusammenhalten. Das tut er aber nicht. Er setzt auf das Wort seiner Beamten, das unverrückbare Gesetz und die eiserne Faust seiner Soldaten, um seine Macht im Weltimperium zu wahren. Und dahinter steckt ein Jahrtausende altes Erfolgsrezept. Hat man (als König) einmal eine Seele dem Willen der Krone unterworfen, erhält man einen trefflichen Diener, der nach dem Vorbild seiner eigenen Bezwingung weitermacht. Im Gegenzug für seine Gefügigkeit erhält er, was man sich im Leben so alles wünschen kann: Dukaten, Land und Untertanen. Pflichten gibt es wenige, und die höchste ist jene, alle die, die einem selbst untergeben sind, ebenso dem Gesamtkonzept der Monarchie anzupassen. An diese gibt er nun jeweils ein paar Flecken seines Landes weiter, während diese das Prinzip munter weiterführen. Das ist die Geburt eines feudalen Systems. Und es muss zweifelsohne des effektivste sein, denn andernfalls würde unsere Majestät nicht über so ziemlich die gesamte Welt regieren.
Geschieht es nun jedoch, dass völlig neues Land erschlossen wird, wo sich eine neue Gesellschaft bildet, in der die einst Reichen in der Gosse und die einstigen Penner in den Schlössern landen oder zumindest reiche Kanalstrolche werden, da überschlagen sich zuweilen die alten Werte, und viele Einwanderer mit zu viel Zeit kommen auf völlig neue, beinahe widerliche, liberale Gedanken. Da werden ganz banale Verbrecher zu Opfern, wenn sie vom altbewährten Arm der Exekutiven, sprich, dem königlichen Banner, gejagt oder, wie bislang immer üblich und völlig selbstverständlich, schikaniert werden. Sie werden zu Märtyrern für eine Art Klassenkampf, in dem die neue Arbeiteraristokratie ihr eigenes Wohlergehen vor lauter Geld nicht mehr erkennen und die Krieger und Söldner durch ihre reichen Feldzüge gegen immer wiederkehrende Feindmassen an Kreaturen regelrechte Inflationen auslösen. Diese aufbegehrenden Neureichen (wenn auch bei weitem nicht alle von ihnen) scheinen teilweise am Nutzen der adeligen Vormundschaft zu zweifeln, sodass die Ritter der Insel, obzwar selbst nicht von blauem Blute, zum Sinnbild der ausbeuterischen Unterdrückung und dem Joch der Freien und Bürger werden. Diese politischen Verwerfungen und Stürme kommen mit Sicherheit dadurch zustande, dass der ahnungslose Einwanderer von der örtlichen Konsumgesellschaft völlig überrumpelt wird. Hali erging es nicht anders, zumal er von Natur aus als ein ehemals Heimatloser sehr wankelmütig in seinen weltlichen Ansichten war. Mit dem gedanklichen Keim im Herzen, auf dieser so freizügigen Insel etwas für die arbeitenden Massen zu gewinnen, die sich zumindest auf dem Festland tagtäglich abmühen, musste er aber sehr rasch feststellen, dass es auf der anderen Seite des großen Meeres keine arbeitenden Massen gab! Nur kämpfende Massen, und selbst jene lebten und leben in Verhältnissen, über die der gemeine Mann nicht klagen kann. Im Enddefekt passt sich also doch jeder an, es ist nur eine Frage der Zeit. Wenn der Reiche wieder den Konsum gefrönt hat oder der Arme ein Paar Schuhe von der Kirche geschenkt bekommen hat, sind alle wieder für eine Weile zufrieden und kommen nicht in Versuchung, das auf ganz Tare erfolgreichste Gesellschaftssystem in Frage zu stellen.
Die Unlust eines politischen Umsturzes, der bislang ohnehin noch nie irgendwo gelungen wäre, ist durchaus noch anderweitig begründet. Wider aller zeitweiligen Euphorien der Anprangerung der Willkür, welche die Feudalherren wohl ausüben, wird das empfindliche Herz des Materialismus nie außer Acht gelassen. Zu viel Unruhe bekommt ihm nicht gut und sogleich entflammt in jedem, der von ihm abhängig ist, die große Sorge. Lieber ein bisschen unterdrückt und dafür reich und fett, als den eigenen Herren seinen Willen zu diktieren und dafür die Leidenschaft des Einkaufs auf dem Markt zu verlieren, wenn vielleicht alles den Bach heruntergeht und die großen Bedrohungen die Städte überrennen. Hali hätte noch den ganzen Vormittag weiter im Bett rumliegen können, um den Irrgarten seines Hirnes zu erkunden, aber der Hunger trieb ihn jetzt raus. Der Hunger nach Brot; und der Hunger nach neuen Stiefeln.
10. Kapitel
behandelt das Schicksal der Akoraverehrer sowie die siebenwindsche Nahrungsversorgung.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Erst kommt die „Liebe“, dann kommen die Zweifel. Es gäbe wohl bei weitem weniger Akoraverehrer, die mit dem Gedanken des Freitodes spielen, wenn sie gleich zu Anfang (also bevor sie sich am zweiten Tag der Bekanntschaft unsterblich verlieben) mit ihrer Angebeteten über die Begrifflichkeit der Liebe disputiert hätten. Dann hätte der Baumstamm vor dem Turm einige Kerben weniger, die Vögel wären gestern nicht im Umkreis von zwei Meilen davongeflogen und der Wald wäre um einen mit einem Schwert bewaffneten Durchgedrehten ärmer. Hali mochte dem enttäuschten Alashar nicht richtig böse sein, denn eigentlich war dieser lediglich Teil einer sich stets wiederholenden Misere. Er bestätigte nur das Alternieren eben solcher Ereignisse. Auch wenn dieser Ausgang fast etwas Neues war. Akora, das kaltherzige Ungeheuer, welches die Männer in Scharen verzehrt, um sie dann etwas angedaut wieder auszuspucken. Wohl hat es irgendetwas Betörendes an sich, das die Männer blind macht. Es erinnert fast an die seltsamen Frauenwesen, von denen Seefahrer oftmals berichten, dass sie wunderschön singen. Und wenn die lüsternen Matrosen die Ozeandirnen ansteuern, stoßen sie auf irgendein Riff und zerschellen oder ein paar springen einfach von Bord und ersaufen. Manche alten Säcke und Schriftgelehrten sind anscheinend nicht umsonst etwas feindlich gegenüber weiblicher Freizügigkeit eingestellt; aber wahrscheinlich nur, weil sie selbst mehr Schlechtes als Gutes daraus gewonnen haben und sie sowieso keiner haben will.
Dieser Gedankengang büßte allmählich an Intellektualität ein und wurde anspruchslos. Genau der richtige Zeitpunkt, um noch eine Mitternachtsmahlzeit zu sich zu nehmen. Hali tapste barfüßig über den kalten Stein zur übervollen Fresskiste. Eine gute Wurst, das wäre mal wieder was, dachte sich Hali, der in den letzten Wochen eher die Armenwurst (das Selbstmitleid) genossen hatte. Das Objekt seiner Begierde fand er leider nicht. Dafür aber ein Stück gepökeltes Fleisch. Er mochte gar nicht drüber nachdenken, von was für einem Tier das zähe Exemplar stammte. Hauptsache, es war wieder etwas anderes als Karotten und Brot. Und der gute Käse ging auch bald zur Neige. In Wahrheit ist Hali jedoch kein gutes Beispiel, was die Üppigkeit der Ernährung angeht, er hatte schlichtweg nichts Besseres, und das, obwohl Fleisch bald billiger ist als Brot. Wohl liegt dies darin begründet, dass die winzigen Ackerflächen nur von wenigen Bauern bewirtschaftet werden, welche ihre trotzdem mit erstaunlichem Ertrag geernteten Güter zu (nach festländischen Verhältnissen) wucherischen Preisen verhökern. Wer nach Siebenwind einwandert, der wird in der Tat alsbald feststellen, dass es mehr Jäger und Forstschmarotzer gibt als Landgesindel. Darum, dass die Wälder einen schier unermesslichen Schatz an Wildtieren hervorbringen, steht einem jeden ein reichhaltiges Nahrungsangebot zur Verfügung. Auch die Lagermethoden haben sich rasant verbessert, wodurch einmal filetierter und gegarter oder gekochter Fisch sich über mehrere Monde hinweg halten kann. Wohl muss das Geheimnis im Einlegen oder Einsalzen liegen, Hali wusste es nicht, er hatte ja schließlich keine Ahnung davon. Brot ist ebenso mit langer Haltbarkeit gesegnet und wird sogar nach Jahren noch verzehrt und als genießbar bezeichnet. Vielleicht rührt dies daher, dass das Brot ob des recht feuchten Klimas auf der Insel nicht so schnell hart wird und zugleich von der salzhaltigen und reinen Meeresluft vor dem Verderben bewahrt wird. Denn Fleisch wird durch das Pökeln ja auch haltbarer. Überhaupt ist es ein faszinierendes Phänomen, wie und warum Speisen sich auf so widerwärtige und stinkende Art und Weise langsam auflösen, ähnlich wie tote Tiere oder Zweibeiner. So steht zur Debatte, ob der Körper eines Menschen, wenn er sich auflöst, mit in Morsans Hallen gelangt, oder ob aus seiner Materie etwas anderes wird. Doch gingen sie in die dritte Sphäre ein, dann müsste wohl auch das Brot und die toten Tiere dorthin gehen und bald gäbe es nichts mehr auf Tare. Es ist sicherlich am naheliegendesten, dass sie in der ersten Sphäre wieder zu neuem Leben erwachsen. Denn tote Blätter werden auch zu Erde, und Kadaver werden von Würmern gefressen oder hinterlassen staubige Flecken in dunklen Höhlen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie auch dort gefressen wurden. Und wer weiß, vielleicht gibt es noch andere, schwer oder gar nicht sichtbare Wesen, welche das tote Fleisch tilgen.
Unweigerlich frage Hali sich, warum es dann Brauch ist, die Toten in der Erde zu verscharren. Wäre es da nicht bald freundlicher, einen Toten zu verbrennen, damit er nicht zum Madenfraß wird? Oder gelangt der Körper nur dann mit in die Hallen des Schweigenden, wenn man ihn im Boden verbuddelt? Wie auch immer die Antwort lautet, Hali war müde. Er legte sich schlafen.
11. Kapitel
handelt von der akoraschen Soziologie und anderen Wissenschaften.
Manche Leute studieren die Historie, das Gefüge des Kosmos, die Theologie, Alchemie oder Biologie. Hali für seinen Teil studierte das Leben; und seit geraumer Zeit auch „akorasche Soziologie“. Die akorasche Soziologie beschäftigt sich mit der gesamten Sozialstruktur, die sich um das als Akora bekannte Wesen herum webt. Es mag als ein sehr spezielles Fach erscheinen und nur Kenner der Materie oder Interessierte und Weltforscher tangieren, aber viele der logischen Schlüsse lassen sich umfassend auch bei generellen Sachverhalten anwenden. Die neuste Erkenntnis lautet: Nichts ist allgemeiner als der Tod. Der Tod geht kausal aus dem Leben hervor. Die Geburt als Ursache zieht demnach immerfort das Ableben als Wirkung nach sich. Kommen wir nun zur spezifischen Auswertung dieser Feststellung. Infolge dessen, dass die Geburt ohnehin den Tod nach sich zieht, erübrigt sich die Frage, ob auch Akora passiv aber ursächlich ein Ableben bewirken kann, da dieses bereits durch das Leben des Betroffenen feststeht. Nach den Gesetzen der Alchemie betrachtet kann Akora jedoch als eine Art Katalysator ähnlich einem Schwert für den Sterbeprozess der in sie Verliebten wirken. Das heißt, sie beschleunigt diesen unter gewissen Umständen, je nach dem, wie die entsprechende Substanz beziehungsweise der entsprechende Schmachtende darauf anspricht. Da Hali eine Weile mit einem gewissen Scholar zu schaffen hatte, konnte er den Sachverhalt laienhaft in chemischen Wortlaut fassen. Unter der katalytischen Einwirkung von Akora reagiert Alashar zu … Nun kam er gedanklich wieder in den Konflikt, was aus toten Körpern wird. Unter der katalytischen Einwirkung von Akora stirbt Alashar bei verminderter Reaktionszeit. So. Gerade rechtzeitig zuende gedacht, denn Rihan verabschiedete sich in diesem Moment, um auf nimmer Wiedersehen wieder heim zu Mama zu fahren. „Was machen wir nun?“, fragte Hali Akora, „Wieder einer weniger.“ Sie tadelte ihn nur mit den Worten, er spräche, als verlade er Verpackungen oder dergleichen. Gar nicht mal so falsch, wo er doch gerade in Substanzen und Stoffen dachte.
Dieses emotionsarme Denken hatte durchaus seine Vorteile und ebnete den Weg zum Pragmatismus. Hali könnte fast wie jene großen Stoiker werden, die ihren eigenen Söhnen wie gemeinen Bettlern die Hände abhacken lassen, wenn diese eine Magd begrabscht haben. Aber insgesamt war er doch zu emotional und gebrechlich in seinem Denken. Trotzdem ärgerte er sich, dass Alashar die versprochenen Handschuhe nicht mehr gefertigt hatte. Wozu hatte er ihn damals eigentlich wieder aufgepäppelt? Damit er die Kraft besaß, sich wie ein Verrückter aufzuführen und buchstäblich ins offene Messer zu springen? Wohl kaum. Aber wie dem auch sei, nun war er tot. Und Hali hatte Appetit auch Milch. So ein Glas Milch ist eine feine Sache, dachte er sich, als er das Gefäß in der Hand wog und knarrend die Treppe hinaufging. Sie scheint gleichsam den Hunger wie auch ein wenig den Durst zu stillen. Wie sonst auch könnten kleine Lärmbälger oder Kälber überleben, wo sie doch ausschließlich dieses weiße Zeug tranken. Eine faszinierende Einrichtung der Natur, die sich beinahe alle Völker sogleich zunutze gemacht haben, um Tares Ressourcen möglichst auszuschöpfen. Und wenn die Kuh oder welches Tier auch immer keine Milch mehr gibt, dann wird sie geschlachtet und gegessen. Genial. Hali kannte dieses Prinzip schon aus seiner Kindheit in eher bäurischen Landen. Nach kurzem Schwelgen in Erinnerungen, einem Glas Milch und einigen mehr oder minder tröstenden Worten gen Akora mit dem absoluten Erkennen der Antwort auf alle Fragen bezüglich des Menschseins (Weil wir leben.) verkroch sich Hali nun wieder in den Mief der Schlafgemächer. Das Studium der akoraschen Soziologie ist sehr kraftraubend.
Morgen würde er sich vielleicht doch lieber einem neuen Spezialgebiet widmen. Aber das ist eine andere Geschichte.
12. Kapitel
ist ein Blick in die Vergangenheit und eine Auseinandersetzung mit dem Wert des Lebens.
Die Welt ist voller leerer Schrecken. Der Tod, die Armut, die Einsamkeit. Sterben tun wir alle, Wald und Wiese verlangen kein Geld für das Essen und den Frieden, den sie geben. Und die Einsamkeit; sind wir nicht alle einsam? Sind wir in Gesellschaft nicht sogar einsamer, als wenn um uns herum nur die Ruhe ist? Der Tod des Alashar, diese Geschichte zog sich nun schon über mehrere Tage. Nun hatte Cendaric es erfahren. Seine Trauer ließ Hali erst merken, dass er überhaupt gar nichts empfand. Zwar kannte er ihn flüchtig, doch für ihn war er nur einer von vielen, die er hat sterben sehen. Damals, in Malthust …
„Auf die Beine! Auf geht’s! Loslosloslos!“ Die Papiner hatten in diesem immer währenden Streit das äußere Torhaus irgendeines steinernen Forts im Grenzland erstürmt. Der Befehl des Kommandanten war einfach: „Nehmt dieses verdammte Ding wieder ein, koste es, was es wolle!“ Nun ging der Ausfall los. Der schwerbewaffnete Haufen griff auf direktem Wege und über den Mauerring an, um die noch schwerer bewaffneten Papiner daraus zu vertreiben, oder besser noch, zu töten. Über Trümmer und Leichen rannten sie, das blutbefleckte Banner voran, Hali und ein paar andere Feldscher hintendrein, um ihre grausige Pflicht zu tun. „Die Vier mit uns!“, stieß ein Offizier aus und mit tosendem Kampfgeschrei rannten sie in die provisorische Verteidigungslinie vor dem zerstörten Fallgitter, während die anderen von den Mauern aus über die Leitern in das kleine Bollwerk einzudringen versuchten. Welch Ironie, dass die Papiner ebenso die Gnade Bellums anriefen und alle anderen Heucheleien übten. Sogleich begann das Hauen und Stechen. Schmerzensschreie, das Geräusch von Stahl, der durch Fleisch schneidet, Kettengeklirr und das plumpe, blecherne Knallen von Rüstzeug. Schwertgeklirr, das Sirren von Bogensehnen. Die markerschütternden, lähmenden Fanfaren tönten schauerlich aus beiden Lagern. Auf der zuvor von den Malthustern zur Verteidigung gedachten und vorhin von den Papinern eingenommenen Aufschüttung im demolierten Torbogen lagen schon Dutzende Tote, Blut floss in Strömen herab, überall Gliedmaßen, Erschlagene, Verwundete. Darüber ging der Kampf mit entsetzlicher Gewalt weiter. In verzweifelter Hektik versuchte Hali, die Stöhnenden notdürftig zu behandeln. Dort, wo das Gedärm aus den aufgeschlitzten Leibern quoll, war es hoffnungslos. Dort half es meist nur, mit einem Hammer einen Keil in den Nacken zu treiben, um das Leid zu verkürzen. Ein Akt des Gräuels im Spiel des Lebens. Und die Götter sahen zu. Kalt und untätig schauten sie dem Reigen des Todes der Menschen zu, wie sie einander erbarmungslos erstachen und erschlugen, erdrosselten und bissen, durchbohrten, die Knochen brachen, die Schädel zerschmetterten. Das Leben eines Mannes? Wertlos. Die Gebote der Götter? Ohne Bedeutung, aufgesetzt, nicht existent. Die Frommen und Götterfürchtigen, auf dem Schlachtfeld des Grauens wurden sie zu Zweiflern. Hali umso mehr, wo er doch der Konfession der Sahor nicht einmal angehörte. Das Leben, ein Todestanz. Der Waffenlärm gab stets die Melodie, ein Gebet den Heucheltext.
Hali blinzelte und schüttelte sich. Er stand allein in der Küche. Cendaric und Akora verließen gerade das Haus, um die Leiche zu sehen. Sie solle hier beim Turm begraben werden und nicht mumifiziert in einer Katakombe vermodern, hatte Akora gesagt. Wozu? Was sollte der Körper eines Mannes in dieser Erde, der sich im Wahne selbst ins Messer gestürzt und damit auch noch das Herz eines Kindes belastet hatte, die jene Klinge hielt? Ein Mann, der sein Leben nicht zu schätzen wusste. Fürwahr, auch Hali war mehr als einmal dem Freitod nahe, doch er lebte noch immer. Und mag einem das eigene Leben auch als belanglos erscheinen, so möge man es wenigstens nutzen, um sich für andere Seelen aufzuopfern. „Mhrmm… Dem alten Morsan werde ich was erzählen, wenn der Tag meines Zeugnisses gekommen ist …“, murmelte Hali leise vor sich hin schenkte sich noch etwas trockenen Wein ein. – Warum sind die Dinge, wie sie sind (so schrecklich)? Nun, vielleicht, weil wir leben.
13. Kapitel
glänzt mit bildhafter Metaphorik und schlechten Vergleichen.
Vögel können wunderbar fliegen. Nicht selten auch gegen Fensterglas. Die (meisten) Menschen laufen nicht dagegen und versuchen auch ihren Kopf nicht durch ein geschlossenes Fenster zu stecken, weil sie wissen, dass dort zwischen den Rahmen etwas durchsichtiges ist, das sie davon abhielte, so sie den Versuch unternähmen. Die Vögel wissen dies nicht und klatschen daher in vollem Fluge dagegen, obzwar die Öffnung das Licht seltsam trüb bricht, sodass ein Mensch es sähe. Mit anderen Dingen geht es den Kindern der Vier