Tief aus dem Rachen grollt ein bedrohliches Knurren. Die buschige Mähne gesträubt, spannt der endophalische Wrathij-Löwe die Muskeln. Bereit zum Sprung. Gebannte, atemlose Stille senkt sich über die Szenerie. Unzählige Augenpaare richten sich auf den Mann, der starr vor der Bestie ausharrt. Keine Regung. Das Knurren schwillt zu einem Fauchen an, der Körper des mächtigen Untieres erbebt. Der Löwe springt. Die Flammen des Feuerrings flackern auf, als der Löwe geschmeidig hindurchsetzt. Sägespäne stauben auf, als er auf dem schmutzigen Boden landet und stolz erhobenen Kopfes zu dem wackeligen Holzpodest zurücktrottet. Die Anspannung löst sich, tosender Applaus und Hochrufe füllen den Schuppen, in dem sich der Löwenbändiger nun würdevoll vor seinen johlenden Zuschauern verbeugt.
– Wanderzirkus aus Endophal.
Allgemeines:
Oft sind Abrichter als Einzelgänger und Sonderlinge verschrien. Doch damit tut man ihnen Unrecht: Auch wenn sie ihren Mitmenschen gegenüber wortkarg und eigenbrötlerisch erscheinen, verbirgt sich hinter der rauen Schale doch ein weicher Kern. Einfühlsam und voller Hingabe widmen sie sich ihren Tieren und ihre Schützlinge belohnen soviel Tierliebe mit unnachahmlicher Zutraulichkeit. Ja, fast scheint es, als ob einige Abrichter gar magische Fähigkeiten besitzen, um selbst die unzähmbarsten Tiere gefügig und – im wahrsten Sinne des Wortes – lammfromm zu machen. An einigen Orten werden Abrichter wegen ihrer unerklärlichen Gaben verehrt und hoch geschätzt – zum Beispiel, wenn ein Abrichter das Dorf vor wilden Tieren schützt. An anderer Stelle bringt man ihnen eher Skepsis und Misstrauen entgegen: sogar Hexenkunst und dunkle Magie sagt man den Abrichtern gelegentlich nach, wenn sie wochenlang durch die Wälder streifen und eines Tages unverhofft mit einem geifernden Wolf oder einem wilden Bären im Gefolge wieder auftauchen. Und in den großen Städten werden die „Tierbändiger“ als Attraktion gefeiert. Oft sind sie sogar zu Gast an den Höfen des Adels und unterhalten die Herrschaften – gleichgültig, ob mit tanzenden Mäusen oder gezähmten Wrathij-Löwen.
Die Gabe auf Tiere einwirken zu können merkt man Kindern meist schon früh an: Wenn ihnen die Hofkatze auf Schritt und Tritt folgt oder man sie beim Spielen inmitten eines ganzen Rudels streunender Hunde entdeckt, dann wird das Kind diese Gabe eines Tages vielleicht zu seinem Beruf machen. Als Abrichter stehen ihm dabei viele Wege offen: Vielleicht lernt er, wilde Pferde, Ziegen oder Rinder zu zähmen und zu Nutztieren zu machen, vielleicht versucht er sich aber auch daran, wilde Tiere wie Wölfe oder Bären zu bändigen. Diese sind nicht nur die Attraktion in der Manege eines Wanderzirkus – auch einige verwegene Kämpfer halten sich zu ihrem Schutz solche Bestien. Wieder andere Abrichter verdingen sich an einem Adelshof als Falkner oder finden als Taubenzüchter Anstellung bei einem Botendienst. In diesem Fall gleichen sie eher gewöhnlichen Bürgern als den rauen, streunenden Abrichtern der Wälder.
Oft wird das Wissen der Abrichter von den Vätern an ihre Söhne weitergegeben, sodass viele von ihnen ein schier unerschöpfliches Wissen über das Zähmen und Abrichten, aber auch über die Zucht, die Wundheilung und Pflege sowie die Fütterung der verschiedensten Tiere haben. Abhängig von ihrer Lebensart kommen weitere Fähigkeiten hinzu: Ein Abrichter, der die Wälder durchstreift, muss in der Wildnis überleben können, die Fährten der Tiere aufstöbern und vielleicht auch jagen oder Beeren und Nüsse sammeln können, um auf seinen Wanderungen nicht zu verhungern. Erfolgreiche Dompteure vereinen in sich die Fähigkeiten von Marktschreiern, Schauspielern und raffinierten Kaufleuten. Falkner sind zugleich auch Verständige zumindest der niederen Jagd. Da sie die Adeligen oft auf ihren Jagden begleiten, finden sich unter ihnen auch begabte Reiter.
Kleidung und Waffen:
Genauso, wie sich die Tätigkeiten der Abrichter unterscheiden, so bevorzugen sie auch ganz unterschiedliche Kleider und Waffen. Wer die Wälder durchstreift, wird schützendes Leder und wetterfeste Kleider in unauffälligen Naturfarben benötigen, dazu Pfeil und Bogen, eine Schleuder oder auch einen Speer zur Verteidigung. Reisende Dompteure sind die am schwierigsten zu beschreibende Art der Abrichter: Mal heruntergekommen wie ein Bettler, mal prächtig gekleidet wie ein Edelmann, mal schillernd und Aufsehen erregend wie ein Gaukler. Ebenso wie die meist einfach und praktisch gekleideten Falkner setzen sie sich zur Not mit schnellen, leichten Waffen wie Degen, einem Dolch oder auch den bloßen Fäusten zur Wehr. Da die meisten Abrichter eher drahtig als wirklich kräftig sind, sind schwere Waffen kaum verbreitet. Metallene Rüstungen tragen sie nie, da diese sie in ihrer Bewegungsfreiheit zu sehr einschränken und das metallische Klirren nur ihre Tiere verschrecken würde.