I. Kapitel
von dämonischen Krankheiten und ideellen Eitelkeiten.
Als sei es ein Gleichnis bezogen auf Halis Gesundheit, so ging seine Ansteckung mit der mysteriösen Dämonenkrankheit mit dem tiefen Abstieg in die Katakomben des Friedhofes einher. Treue der Kirche, Treue dem Lehen, das hatte er einst geschworen, nun musste er damit leben, dass ihn ein Ritter auch zuweilen ins Verderben führen konnte. Juckende, tränende Augen. Als Zeichen seiner einstigen Präsenz hinterlies er in den schauderhaften und kalten Gewölben noch einige Andachtslachen an Erbrochenem. Schwacher Trost war es ihm, als er auf dem beschwerlichen Heimweg konstatierte, keine verklumpten und verschleimten Extremitäten zu haben. Es war letztlich aber wohl sein Glück, dass er so aufgelöst und erschöpft und folglich schlecht in der Wahrnehmung war, als er wieder im trauten Heim ankam, um sein Untermieterdasein in Akoras Turm zu frönen, denn ein Dämon, der zum Teetrinken am Tisch sitzt und mit Toran und einem seiner schrägen Magierfreunde über die derzeitige politische Lage der Insel plauscht, ist nicht gut für Kreislauf und Nerven eines Normalsterblichen.
Die Tage flossen so dahin und das Siechtum breitete sich aus. Eines Tages war Hali wieder in der Verfassung, die Stadt zu besuchen, denn mittlerweile hatte er seine festen Zeiten für Übelkeit und Oralauswurf. Anbei ist derlei saures Sekret auf Dauer nicht sehr förderlich für den Fortbestand einer intakten Speiseröhre. Da lehnten nun so die Kranken auf dem Markt wie eh und je an ihren Stammständen, als sei nichts. Nur ihre entstellten Gesichter und Hände verrieten, dass irgendetwas von der Alltagsnorm abwich. Doch sobald die Seuche einmal alle erfasst hätte, so war Hali sich sicher, wäre es dann vielleicht ganz normal. Die Verwandlung der siebenwindschen Population von geschmeidigen Schönheiten zu ekelerregenden Rotzmetamorphosen. Man könnte es als Außenstehender fast für einen grotesken Plan der Götter halten, wäre es nicht allgemein bekannt, dass hier Dämonen am Werke waren. Ungeahnt dessen nahm das Schicksal seinen Lauf. Die gerechten Diener der wahren Konfession blieben freilich nicht untätig und alsbald wurde eine heilige Kuranstalt erschlossen. Und in der Tat, das gesegnete Wasser verschaffte bemerkenswerte Linderung; jedoch nur für die Dauer des Bades. Gäben die ob ihrer Leiden Hinfälligen ihr Landleben zugunsten der Wasserwelt auf, sie könnten vielleicht zumindest beschwerdenfrei weiterdarben. Auch ein amphibisches Leben wäre eine denkbare Option. Da die Gesetze der Natur allerdings über dem freien Willen der Kinder der Viere stehen, ist ihren Heilungsgelüsten an dieser Stelle eine Zäsur gesetzt.
Uns allen ist bekannt, dass man sein begrenztes Leben manchmal nicht all zu ernst nehmen sollte, da wir früher oder später ohnehin allesamt das Zeitliche segnen werden, um in die bisweilen unerforschte Nachwelt einzugehen. Das Dasein auf Tare, ein einziger großer Witz, ein kleines Späßchen am Rande, an dem nur schräge Sadisten mit Galgenhumor wie Rekar ihren Spaß haben oder jene beneidenswert gelassenen Gemüter, die als lockere Müßiggänger ihre Existenz fristen und sich um das Leiden der Welt entweder nicht scheren oder mit einem gemütlichen Schulterzucken verschmitzt vor sich hin grinsen. Zweiteres entpuppte sich aus Halis Sicht als ein durchaus annehmbares Ideal, das zu erreichen er aber außer Stande war mit all seinen Sorgen und Ängsten. Ein Ziel für spätere Tage, für Tage, an denen alle Freunde tot sind und diese widerwärtige und lästige Krankheit sich von ihm gelöst hat. Tage, da er alt und schrullig mit Greisenhumor über Tare lacht. Aber dieser Tag würde vielleicht niemals kommen, denn auf Siebenwind wird man nicht alt. Auf diesem Eiland stirbt man besser, bevor man jenseits der Zwanziger dem Verfall anheim fällt und im verzweifelten Kampf gegen die Flucht seines jugendlichen Antlitzes am Ende noch mit dunklen Mächten buhlt – außer, man ist ein Magier, denn deren Leben besteht (offiziell) im Gegensatz zum gemeinen Pöbel aus mehr als nur Geld und Frauen. Zu schade, dass Hali mit der magischen Tauglichkeit einer unterdurchschnittlich arkanen Weinbergschnecke ausgestattet war. So musste er wohl in zwei Jahren (wenn ihm die Zwei in der ersten Ziffer seines numerischen Alters abhanden kommt) ins Gras beißen, um in der nächsten Welt sein Glück zu suchen. Ein erträgliches Los, wenn er nur wenigstens Geld und Frauen im Diesseits hätte!
Sicherlich Bestandteil des Weltwitzes, nur konnte Hali nicht so recht drüber lachen, denn die Pointe blieb ihm bisher verwehrt.
II. Kapitel
über die Helden Siebenwinds und jene, die Helden erst möglich machen.
Ohne Zweifel bestand Grund zum Feiern. Die Seuche war besiegt, das Repertoire der nicht auszuspeienden Nahrung erheblich vermehrt worden. Nun begann wieder der heißgeliebte Wallalltag: Sich die Beine in den Bauch stehen, um dann von Ogern und Trollen niedergetrampelt zu werden oder undankbare und kaltherzlich gelassene respektlose Reisende zu befragen. Überhaupt scheint es, dass die Leute auf Siebenwind durch die Rolle eines einzigen riesigen Heerlagers der Insel keinen Funken von (Ehr-) Furcht oder Unsicherheit im Angesicht gerüsteter Wachen verspüren und ebenso gar nicht überlegen, warum sie überhaupt in die Ödnis wollen. Wer heuer auf der Insel der goldgerüsteten und kampferprobten Allzeitklugen den gemeinen Mann vor Gefahren aus den Landen der Verderbnis schützen will, der erntet am ehesten Undank und Spott. Dass die Wachmannschaft tagtäglich kiloweise Kadaver aus dem Eingangsbereich entfernt und so den reibungslosen verkehr ermöglicht und sich mit wildgewordenen Kreaturen herumschlägt, das interessiert im Volke keine Sau. Selbst (oder gerade) die Schar der glorreichen Helden schert sich wenig darum, denn was ist schon eine Befugniserteilung des Lehens und die Gunst der Kirche gegen den Individualismus und die Selbstheroisierung einer engstirnigen und furchtlosen Waffennarrenkaste?
Wahrlich, die paradoxe Schlägeraristokratie der verkehrten neuen Welt (auch Insel Siebenwind genannt) wollte Hali nicht unbedingt zum Freund haben, wenngleich das ohnehin auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien, denn gleich und gleich gesellt sich gern, dem fremden Narren bleibt man fern. Dass diese hünenhaften Kriegsmaschinen trotz der Tatsache, sich vor lauter Stärke und Muskeln nicht mal mehr in der Nase bohren oder am Hintern kratzen zu können, dennoch zu etwas taugen, das zeigt sich immer wieder, wenn die ungefähr genauso intellektuellen Ödlandsscharen (Oger, Trolle…) zum Angriff brüllen und sich in die grünen Lande ergießen. Solche Kunde greift um sich wie ein Laubfeuer und mir nichts, dir nichts strömen die Massen der eingewanderten Klingenschwinger blutdurstig in das Gemetzel, um mit dem Erlös der Kriegsbeute (Ohren, Felle, Zähne) zu saufen und ihr Heldentaten zu erzählen. So stellte es sich Hali zumindest vor, oder was treiben die Soldaten, Söldner und das restliche Waffenpack sonst den lieben langen Tag?
In jedem Falle scheinen die meisten sehr belesen zu sein oder viel herumzukommen. Oder sie sind unglaublich mutig – oder schlichtweg hirntot. Eine dieser hypothetischen Ursachen führt dazu, dass sie nichts verängstigen kann, dass sie vor nichts und niemandem Respekt zeigen wollen, das oder den sie auch umbringen könnten und überhaupt immer über alles bescheid wissen. Sie kann nichts überraschen. Die Gunst der Götter, vornehmlich Bellum und Astrael, gehört ihnen. Vielleicht der Lohn für ihre Heldentaten in den zahlreichen Kriegen gegen die Feinde des wahren Glaubens. Siebenwind, die heilige Walstatt, zu der die Kämpfer aller Länder strömen, um sich einen guten Platz im Totenreich zu sichern. Wer auf dem Festland ein Mörder war, auf der Insel der unbegrenzten Möglichkeiten ist er ein Held! Es wird deutlich, hier wird aus jedem was – es sei denn, man heißt Dorion Hali und verwaltet Bürokratie und Gesundheit einer ignorierten Organisation, die sich mit undankbaren Aufgaben herumschlägt. Doch so spielt das Leben, denn wie könnte es Sieger und Helden ohne Verlierer, Meister des Kampfes ohne Laien, Berühmte ohne Unbekannte und Glück ohne Unglück geben? Die von Tare Verratenen verdienen eigentlich Dank und Jubel für das, was sie ermöglichen, aber dann wären sie keine Verlierer und Versager mehr und das System bräche zusammen. Traurig, aber wahr, es ist wie mit der Beseitigung der Pferdescheiße: Einer muss es ja machen (Wer eigentlich?). Das Leben ist grausam; selbst auf der Insel des grenzenlosen Glückes. Mit einer hoffungslosen Liebe ist das Pech letztlich perfekt. Freilich hat jeder Mensch seine Talente und Fähigkeiten, und es gehört auch einiges dazu, seine Perfektion im Unbill zu entfalten. Trotzdem sind es stressige Zeiten für die Nieten der Insel, wo doch jede von ihnen für drei Heroen einsteht.
III. Kapitel – Großkapitel
Erzählt von einer wundersamen Traumbegebenheit.
I. Caput
Prolog.
Kann ein einzelner Mann die Welt verändern? Wohl kaum, es sei denn, er ist König. Wenn der gemeine Mann mit solch einem illusorischen Ziel lebt, dann richtet er in der Regel mehr Schaden an, als er Nutzen bringt. Dies zeigt sich wiederum vorzüglich an Hali, wie er versucht, eiserne Ideale durch eine effiziente und geregelte Verwaltung der Fünfmannarmee des Ordens durchzusetzen, um damit die Welt vom Übel zu befreien. Unter Umständen so löblich wie der Versuch, allen Menschen Moral zu lehren – und mindestens genauso aussichtsvoll. Aber über solche Dinge nachzudenken war jetzt keine Zeit, zunächst musste er eine kleine und geheime Unterredung mit Cendaric führen. Der Orden schien von Inkompetenz, persönlichen Eitelkeiten und Eigensinnigkeit sowie Werteverfall unterwandert. Zu allem Überfluss taten sich auch noch andere Verdachte auf. Danach, gerade im dem Glauben, diesen Tag ohne größere Verletzungen physischer oder psychischer Art überstanden zu haben, donnerte Akora ihm die schwere Kellertür mit vollem Schwunge gegen die Nase, als er gerade nach der Klinke greifen wollte. Potz Blitz! Ist es Schicksal? Sie jedenfalls hatte Verdacht geschöpft, dass irgendetwas besprochen wurde, das sie nichts angehen sollte und verschwand mit Cen nach oben, sicherlich, um ihn auszuquetschen. Hali zog sich dagegen gepeinigt zu seiner Arbeit zurück. Der Schmerz war widerlich, die Augen tränten ihm noch immer von der Erschütterung seines Nasenbeines. Den Göttern sei Dank hatte seine Stirn etwas von der Wucht abgefangen. In der Einsamkeit des Kellers nun gedachte er, weiter die Wappen des Ordens auf die nagelneuen Waffenröcke zu nähen, doch merke: Lässt du einen großen Haufen Stoff in einem stockfinsteren Gewölbe liegen, dann merke dir wo. Sonst stolperst du und stößt dich unglücklich an der Kante der eisernen Vermögenstruhe. So wie Hali.
II. Caput
Delirium.
Als er wieder erwachte, befand er sich in einem dunklen Raum (wie verwunderlich). Vor ihm stand ein Spiegel und seltsamerweise konnte er sich darin sehen, obwohl es völlig finster war. Aber dann verblasste das Bild im Spiegel. Fahles Licht stellte sich ein und schien aus dem Spiegel zu kommen. Hali fasste nach der Oberfläche, doch da war keine. Es schien nun eher ein Durchgang, ein Portal in einen identischen Nebenraum. Er stieg hinein und wie er das tat, stand er auf einem Berg in luftiger Höhe. Der Wind wehte ihm fauchend um die Ohren und der Stoff seines Umhanges flatterte raschelnd und peitschend im Wind. Vor ihm führte ein Pfad in das Tal hinab und war in seinem Beginn einladend, weich und gerade, in der ferne schien er hie und da in dunklen Senken zu verschwinden und dann wieder aufzutauchen. Er führte in ein flaches, dunkles Tal. Eine unnahbare Unveränderbarkeit und Schwere lag über jenem Weg, aber war es der einzige und so folgte Hali ihm zunächst.
Er war nicht lange gegangen, da ging plötzlich ein Abbild seiner selbst aus ihm heraus, losgelöst wie ein Geist, mit dem Unterschied, dass Hali selbst eher der Geist geworden war, denn sein Abbild allein schien von der Umwelt wahrgenommen zu werden. So beobachtete Hali nun die Szenerien, die sich vor seinen Augen abspielten. Sein Doppelgänger ging den Weg weiter, während er selbst zu einem materielosen Beobachter wurde. Plötzlich wandelte sich die Welt und Halis Gegenbild lief eine Pflasterstraße entlang. Es sah nun älter aus, erfahrener, von den Jahren gezeichnet. Ohne Zweifel, sie befanden sich jetzt in Falkensee, die Straße vorüber an dem kleinen Garten zum Tempel der Sahor hin. Im Rücken das Ordenshaus. Es war nun prachtvoll, majestätisch, ehrfurchtgebietend und überlegen. Ein Sinnbild von erlangter Macht. Jede Bewegung war langsam und pathetisch, Felas Licht bohrte sich durch die Gewitterwolken und ein jeder Gläubige neigte sein Haupt, wenn Hali in seiner prunkvollen Uniform an ihnen vorbeistapfte. Ein Bote oder dergleichen kam herbeigeeilt. „Herr, der Häretiker ist wie von Euch verordnet auf das Schafott geführt worden, um für seine blasphemische Anmaßung, über den Orden gelästert zu haben, die gerechte Strafe zu erhalten!“ Er verbeugte sich und tippelte voran, Hali schritt hintendrein. Und da war an den Pfahl um das Feuerholz gebunden irgendein vertrautes Gesicht, doch es war nicht zuzuordnen. Hali erhob des Wort: „So soll dieser Verbrecher nun nach den Geboten der wahren Götter seine Buße erfahren. So steht es geschrieben, und so soll es sein.“ – Letztere Worte leiser, bedächtiger gesprochen. Dann nahm er die Fackel aus der Hand des Henkers und war sie ins trockene Stroh; und alles ging lichterloh in gleißenden Flammen auf.
Vor dem Beobachter Hali zerfiel alles zu grauer Asche und ein neues Bild erstand. Ein schlammiger Feldweg, in der Ferne ein unbedeutendes Kuhdorf. Plätschernd und klatschend schlurfte eine eher schäbige Gestalt entlang. Auch dies war Hali, und auch dieser Abguss sah älter aus, trug aber trotzdem den alten braunen Umhang (den er eigentlich vor ein paar Monden in Endophal eingebüßt hatte). Seine Haare und sein Bart waren taubenetzt, sein Gesicht verbittert und ausgezehrt. Das Geldsäckchen schien leer und baumelte ohne Gewicht wild am Gürtel herum. Er kam in das Dorf, ohne Dukaten und Essen. Allerdings wirkten die Menschen dort keineswegs viel reicher und schon gar nicht freigiebig, sodass Hali heimlich den Schweinen das Futter aus den Trögen stahl, um es am Waldrand gierig zu verspeisen. Und dann ging die Reise weiter, rastlos, friedlos, trostlos. Der Verlauf des Weges war schwer zu Erahnen, das Land in der weiten Ferne unnahbar.
III. Caput
Exitus.
Der Blick verlor sich. Hali stand auf einer weitläufigen Ebene. Zu seiner Rechten verlief eine schnurgerade, steinerne Straße, von großen, reichen Häusern gesäumt. Zu seiner Linken ergoss sich der Feldweg in Morast, Natur, Ungewissheit und Freiheit. Aber dazwischen, hinter ihm und bisweilen unbemerkt, da wand sich noch ein Weg in fadenscheinige Landschaften. Ein scheinbar neuer, unbekannter. Doch bevor irgendein Geist ihn probehalber beschreiten konnte, fühlte Hali sich irgendwie unwohl, ganz so, als läge er unbequem, obwohl er doch stand.
Auf einmal war ihm nun, als hätte er seine Augen geschlossen. Er blinzelte. Mit geöffneten Augen sah er nicht viel mehr – außer den dreckigen Kellerboden und ein paar Bahnen Blut in den Fliesenfugen. Seine Beine hingen noch auf dem mit einer grauen Wolldecke bedeckten Kleiderhaufen. Sicherlich ein ziemlich bizarrer Anblick, sofern etwas Klares erkennbar gewesen wäre. Hali rappelte sich auf und rieb sich den Schädel, wobei er seine Hände mit Blut beschmierte. „Verdammte Scheiße.“ Wahrlich, ein merkwürdiger Traum. Bloß: Nicht mehr, als ein Hirngespinst ob einer Schädelprellung mit kurzweiliger Bewusstlosigkeit (wer weiß, wie lange er da gelegen hatte), oder doch eine bedeutende Eingebung mit Lehreffekt, wie man sie aus alten Geschichten kennt? In jedem Falle hatte Hali nun Durst. Und einen ramponierten Scheitel.
IV. Kapitel
bemerkt das Floragleichnis und die Leiden der Bankiers.
Manche Bäume wachsen in Wäldern oder kleinen Gruppen, andere dagegen ganz allein auf einer Wiese. Sei es, dass alle anderen um sie gestorben sind, der Wind sie an diesen Ort getragen oder eine fremde Hand sie mutwillig dort eingepflanzt hat. Diesen sinnschweren Gedanken hatte Hali gerade gefasst, als er auf der Jagd nach einem Apfel durch das Geäst in einem Brombeerstrauch gelandet war und nun seine Wunden leckte. Solche einsamen Bäume können sich prächtig entfalten, ebenso wie ein Sturm, Wind und Wetter oder ein Blitz ihnen spielend den Garaus machen kann. Aber wäre Hali ein Baum, aus welchem Grund stünde er dann allein? Und ist es auch nicht so, dass solche Eigenbrödlerstämme den Neuwuchs anderer Bäume gern unfreiwillig und unmerklich im Keim ersticken, weil sie alles um sich herum für sich beanspruchen? Er bemerkte, wie herrlich man doch die Menschenfauna mit der Flora Tares vergleichen konnte: Schmarotzer, Stachelgestrüpp, liebliche Blüten und scharfblättrige Farne (man kann sich wirklich fabelhaft die Hand an einem Farn aufschlitzen). Riesige, erhabene Hölzer und rückgratlose Kletterpflanzen, die sich an ihnen gen Himmel emporziehen. Man beachte auch die Wiesen: Der längste und aufstrebendste Halm dieses Fußvolkes ist der erste, der dem schicksalhaften Mäher des Bauern zum Opfer fällt.
Immergrüne Pflanzen und Nachtschattengewächse, früchtereicher Wein und heimtückisches Moos auf kaltem Stein… Und wenn der Regen der Gewächse Bank ist, dann herrschte unter den Kindern der Viere zeitweilig eine große Dürre: Die Geschäftsleute standen vor verschlossenen Türen, Hartwine verweigerte angeblich den ständigen Gang in die zehnstöckigen Kellergewölbe unter ihrem Arbeitsplatz. Verständlich, wo sie doch tagtäglich und ganztägig hinter dem Tresen steht, indes ihre Füße immer breiter werden. Aber der Urlaub hatte seinen Preis. Fast die gesamte Wirtschaft der Insel lag danieder, verwahrte Frau Hilamos doch gut vier Fünftel der potentiellen Handelserzeugnisse in jedweder Form sowie das zehnfache Vermögen der königlichen Schatzkammer unter jenen Hallen jenseits der kleinen Klappe unter ihrer notdürftigen Pritsche. Frust und Entgeisterung packte das seiner Beschäftigung beraubte Volk und manch einer bereute nun vielleicht, selbst seinen Kleiderschrank in den ausgedehnten unterirdischen Arkaden Falkensees deponiert zu haben. Die Bankwärter Siebenwinds. Sinnbild gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ausbeutung ganz im Stile des kapitalorientierten aufstrebenden Bürgertums. Völlig selbstverständlich lassen Freie wie Bürger diese fleißigen Bienchen zu jeder beliebigen Stunde binnen wenigster Augenblicke in das unterste Geschoss wetzen, um das hinterste angeschimmelte Brot der im höchsten Regal stehenden Kiste herauszukramen und gänzlich abgekämpft noch ein paar brave Worte aus sich herauszupressen, um den nächsten präambellosen Gesuch „Mein Fach, bitte“ zu empfangen. So sprintet sie immer und immer wieder die schmale Treppe in den verborgenen Untergrund hinab und schleppt Gerät und Lasten hinauf, die der Empfänger der Ladung in drei Gängen auf sein Packpferd hievt.
Man könnte meinen, Hartwines Konstitution und Stärke könnte im Ernstfall eine Schlacht entscheiden, aber es ist höchst fraglich, ja geradezu unwahrscheinlich, dass sie ambitioniert auf ein „Einen ‚Angi’ umhauen, bitte“ reagiere. Irgendwann einmal, wenn es zu spät ist, wird das Gros der Siebenwindler bitter und murrend bereuen, einen der ersten Einwohner Falkensees derart vergrault zu haben. Aber auch hier zeigt sich einmal mehr: Erfahrung ist etwas, das man nie hat, bevor man es braucht. Daher sollte man gelegentlich doch ausnahmsweise einmal seinen Verstand gebrauchen. Und wer keinen hat, der bediene sich seiner Empathie, und sei sie noch so verkümmert in diesen schnöden Zeiten der verbreiteten Profit-, Rechthabe- und Ehrsucht.
V. Kapitel
Der Weg ist das Ziel.
Viel war geschehen. Da hatte sich Hali gerade noch dazu entschieden, sich von der öden Schreibtischarbeit zu lösen, um verstärkt seines Amtes als Medicus zu walten, da kam auch schon die Kunde vom bevorstehenden Angriff der Schwarzorken und der raschen Mobilmachung der Streitkräfte. Es war ganz offensichtlich, dass alles wie immer kommen würde. Zwar zogen sich die Orken zurück und die Heerschar der Ritter zog ins Ödland aus, doch endete alles wieder in einem Blutbad einer Spinneninvasion. Trotzdem fielen alle auf das immer selbe Prinzip herein. Viel Arbeit für einen Wundheiler zu Felde.
In Halis Kopf hatte sich etwas gewandelt. Er wusste nicht genau, warum. Sein Spagat zwischen den Konfessionen, der ihm lange Zeit Kopfzerbrechen bereitet hatte, er erschien ihm nun unnötig, konnte er doch ebenso mit festen Füßen zwischen ihnen stehen, ohne sich schändlich vorzukommen. Denn ob Enhor oder Sahor, waren es nicht allesamt wahrhaftige Götter, denen man allen gleiche Andacht darbringen konnte, ungeahnt mancherlei Vorurteilen, Fehden und banalen theologischen Disputen zwischen diesen zumindest auf dem weniger vom Einen bedrohten und zusammengerückten festländischen Klerikern. Das von Nithavela zitierte und in seinem Ursprungsinne umgekrempelte Gleichnis vom Arbeiter, der aus Lehm und Stein ein Haus erbaut, es war überaus bemerkenswert und schlüssig, zeigte es doch in den Augen der Menschen die Abhängigkeit aller an der Schöpfung beteiligten Gottgeschwister auf. Überhaupt war es Hali, als habe er in Nithavela eine gute Bekanntschaft geschlossen, aus der sich insgeheim bisweilen in die Ferne gerückte Hoffnungen nährten. Sie war eins dem Sahorglauben zugetan und nun eine Priesterin der Elementarherren, gleichsam wie Hali auf halbem Wege einer gegenteiligen Konvertierung stand, wo er aber zunächst verharrte. Vielleicht hatte er lange einem Menschen gesucht, der sich ein authentischeres Bild seiner Lage machen und mit dem er darüber reden konnte, ohne sich in Grund und Boden „argumentieren“ zu lassen. „Bist du glücklich?“, hatte Nithavela ihn gefragt. Was für eine Frage, dachte Hali sich, natürlich nicht. Doch bedachte er es recht, so hatte er sich noch nie so genau mit derart essentiellen Fragen auseinandergesetzt sondern eher an der Begrifflichkeit von Glück genagt. Eigentlich fast ein Armutszeugnis, dass sie ihm Rätsel setzte, die er sich selbst noch nie gestellt hatte. „Was würde dich glücklich machen?“ Gute Frage. Besser als „Definiere Glücklichsein.“ Aber für Hali – zumindest im Moment – keineswegs einfacher zu beantworten. Wenn er es sich aber recht überlegte, dann wusste er einmal, was wahre Glückseligkeit bedeutete, wie sie sich anfühlte, was sie ausmachte. Vor langer Zeit, bevor das Wissen mit all den schrecklichen Ereignissen vom Nebel des Verdrängens umhüllt in den Fluten der Schicksalswirren versank.
Nicht auszuschließen, nein eigentlich offensichtlich, dass Hali sich früher oder später aufrichtig und mannhaft seinem Leben stellen musste, anstatt sich eingekauert hinter dem Vorwand des Seelenschmerzes zu ducken. Nichts ist umsonst, das hatte er selbst gesagt. Und der Weg ist das Ziel. Nicht das pathetische, ja fast lächerliche Utopia, das er sich erträumte, nein, der Weg dorthin, ganz gleich, ob er es jemals erreichen würde. Besser mit Eifer auf dem Pfade sterben, als resigniert im Versteck, ohne jemals mutig gewagt zu haben. Würde Hali diese Erkenntnis erfassen, es hälfe ihm vielleicht weiter. Und gänzlich leer und düster war seine Zukunft auch nicht, immerhin schuldete Nithavela ihm noch eine zünftige Fischmahlzeit. Und das seit weit über einem halben Jahr!
VI. Kapitel
von den zwei Seiten der Welt.
Die gesamte Welt ist ein Zwiespalt, denn zwei Hälften hat Tare. Leid und Wonne, Liebe und Hass, Licht und Dunkelheit, Feuer und Wasser, Frau und Mann, Leben und Tod. In den schönsten Zeiten erfahren Menschen Leid und Unglück, und selbst inmitten der Schrecken eines Krieges versinken die Widrigkeiten es Seins für einen Moment in der Nichtigkeit eines Wohlergehens.
Und da begegnete Hali nun in tiefster Zeit von Göttergeißeln jener jungen Frau aus der Fremde des Festlandes. Und wie er ihr mit abgebrühter Ruhe die Lage der Insel schilderte, auf die es sie verschlagen hatte, da wurde es ihm schlagartig bewusst, dass Riesenspinnen und –schlangen, Oger und Trolle und all die anderen Scharlatane des Ödlandes doch mehr als unnatürlich sind, hierzulande aber zuweilen als viel zu gewöhnlich angesehen werden. Sogleich rekrutierte er sie als Helferin für seine harte Feldscherarbeit. Etwas einfältig war dies vielleicht, denn hatte ein Mädchen aus hohem und geordnetem Hause jemals auch nur einen Tropfen des roten Leibessaft oder die Schrecken der Kriege gesehen, wo sie von solchen bisher nur gehört hatte? In jedem Falle schlug sie sich recht wacker, das musste Hali zugeben. Das blutige Handwerk war verrichtet. Starker Himmelsguss prasselte auf die Decke des Zeltes, die Wiese unter seinen Sandelen war schlammig, durchsetzt von hingeworfenen, mit Blut getränkten Tüchern und Verbänden. In dünnen Bahnen floss der Regen unter dem Lazarett hindurch und nahm das warme Rot mit sich hinfort. Und wie Hali das Zelt nach vollendeter Arbeit verließ, da wusch er es auch aus seinen Kleidern. Der Abend rückte heran. Ein guter Moment, um auch die Seele von den Bildern des Tages zu läutern. In der jungen Frau, die er zur Trinkgenossin hatte, fand er eine bemerkenswerte Einstellung zum Leben, einen leichtlebigen Hedonismus, an den zu denken Hali nicht nur darum nie gewagt hätte, weil er sich einen solchen Lebensstil gar nicht leisten konnte. Glas für Glas des rubinroten Weines spülte reinigend durch Herz und Geist, das Blut des Vergnügens, das einzige möglicherweise, das man mit Genuss fließen sieht. Wahrlich, vielleicht muss man gerade in jenen Tagen, da man dem Tode so nahe steht, jeden einzelnen seines Lebens umso mehr genießen, wo doch ein jeder auch der letzte sein könnte. Nutze den Tag! Wahrlich, und sind wir auch im Leben vom Tode umgeben. Hali war fasziniert. Und mit jedem Schluck des wärmenden Trunkes rückten sie einander näher. Das vitamasche Elysium des Rebensaftes, ein Hauch von zweiter Sphäre gar!
Nach Stunden des Zechens wankten sie ulkend und kichernd in den agebrochenen Tag, blendend schien er auf das trunkene Paar herab, als entlarvte sie ein aufmerksamer Gott. Doch verschwanden sie rasch über Feld und Wiese gleich Satyr und Nymphe wieder in einem dunklen Refugium, bis sie sich auf weichen Fellen im schattenhaften Zwielicht breit machten. „Und was machen wir nun?“, fragte sie fast provokant. „Ich dachte mir, wenn wir den Wein schon nicht mehr trinken, dann lassen wir ihn in Geist und Herz weiterfließen, nicht wahr?“, meinte breitgrinsend, obgleich er fast meinte, das Pochen seiner Brust könnte man bis in den Himmel vernehmen. „Ja, das hatte ich auch vor…“ Ein erster warmer Kuss. Das heiße Strahlen ihrer Lust oder das laute Klopfen ihres Blutes zog allerlei Leute in die Nähe des Versteckes, wie von Zauberhand und ohne, dass diese wusste, wie ihnen geschah. Wahrlich musste Vitama selbst am Werke sein. Der Liebesreigen nahm seinen verheißungsvollen Lauf bis in den anbrechenden Tag hinein, den nächsten Tag des schwarzen Krieges. Denn die gesamte Welt ist ein Zwiespalt, zwei Hälften hat Tare.
VII. Kapitel
Vom lieben Leben und seinen kleinen, braunen Unschönheiten.
Da sagte doch die gute Amelia eines Abends zum herumsitzenden Hali: „…Aber Vitama hat Euch ein großes Herz geschenkt… Sie wird Euch nicht allein lassen.“ Und in der Tat. Wie unter einem günstigen Götterstern stehend, nahm Halis Leben eine erfreuliche Wendung an. Er war auf bestem Wege zu Einfluss, einer Wohnung und etwas Geld. Ferner hatte Vitama ihm offensichtlich nicht nur ein großes Herz geschenkt, sondern auch eine Muse, eine Geliebte, eine wollüstige und wunderschöne Frau, die ihn (und wer weiß, wen noch!) zuweilen „beehrte“. Eine Tatsache, die Hali gleich viel selbstbewusster und mit frischerem Mut an seine neuen Aufgaben herangehen ließ. Trotzdem blieben alte Fragen. Haben elfische Kavalleristen alle O-Beine, wo sie doch aufgrund ihrer enormen Größe und Beinlänge die Versen arg anziehen müssen, um ihrem Pferd die Sporen zu geben. Vielleicht reiten sie aber auch nur die wirklich großen Hengste. Bei den Nortraven stellen sich ähnliche Fragen. Diese und ähnliche, ja bestimmt sogar theologische Probleme könnte er vielleicht in der von Herrn Vinsalt angebotenen Diskussionsrunde der Philosophen und Denker disputieren. Beim von Vorfreude triefenden Gedanken daran sah Hali kochende Teetassen, qualmende Pfeifen und die beredten Münder und regen Augen weltweiser Meisterköpfe und Intellektgaukler, die auf ihre Art irgendeine dekadente Dekadenz ausstrahlten.
Prompt wurde er aus den Wogen seiner Phantasie herausgerissen, als er in ein mehr oder minder sinnschweres Gespräch verwickelt wurde, das in der ausführlichen Auswertung des schallenden Solos von Velyans Arschfagott mündete. Es mag sein, dass dem After nicht nur plumpe und fassbare Früchte entfleuchen, sondern dieser auch hörbare Klänge mit Hilfe der unwohlriechenden Gase fabriziert, welche sich aus den Tiefen des Rektums einen Weg durch den Anus bahnen, als bliese einer in ein fleischliches Horn. Aber dies ist selbst nach der Definition, alles von den Kindern der Viere Geschaffene sei Kunst, keine erstrebenswerte und ästhetische Virtuosität. Und könne ein Mensch auch den Ersonter Soldatenchoral mit seinem Gesäß singen und spielen, man lauscht ihm sicherlich mit weitaus besserem Gewissen, wenn man ihn aus den Kehlen mutiger Kämpfer gellen hört, als dass er aus dem Maul des Steißes herausposaunt und übler riecht, als ein verschwitzter Krieger. Nicht zuletzt auch, weil der Anblick eines strahlenden Heeres mehr Pathos und Augenweide hergibt, als die entblößten Beckenrücken einer südendophalischen Backensängerbande, die nicht zuletzt durch ihre Farbgebung der entstehenden Assoziation erheblichen Nachdruck verleihen.
Über diese Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff leitete Hali sein Sinnen zur anatomischen und medizinischen Seite über, war doch der Stoffwechsel aller Wesen eine faszinierende und völlig unerklärliche Angelegenheit. Wie kommt es, dass man, gibt man feinste und wohlduftende Ossianische Bandnudeln oben herein, am Folgeabend oder –tag einen pestilenzialischen und ungenießbaren Haufen erhält? Möglicherweise wurde dem Mahle alles Gute entzogen und ist in den Leib übergegangen, sodass nur noch der schlechte und unbrauchbare Rest ausgeschieden wird. Jener Anteil des Einen, den man in so vielen Dingen auf Tare wiederfindet. Der Ertrag der Verdauung, ein mikrokosmisches Spiegelbild des Makrokosmos. Eine Erinnerung, dass die Welt aus Gut und Böse, Schön und Hässlich, Tag und Nacht, Essen und Exkrementen besteht.
Die Abendbrotszeit war gekommen. Wohl bekomm’s!
VIII. Kapitel
Waffen machen Leute und den Vögeln unsren Dank.
Jeder hat sie, jeder braucht sie, selbst dann, wenn er gar nicht damit umgehen kann. Hauptsache „haben“. Die Rede ist von nichts geringerem als den Waffen aller Art. Ob Ritter, Penner oder Handwerker, fast alle haben ein Schwertgehänge, und wenn sie auch von der Hand in den Mund leben: Auf Siebenwind bekommt man ein Langschwert schon für den Preis von fünf Broten. Das bedeutet eine Woche Hungern für eine Minutenklinge (benannt nach ihrer Herstellungszeit). Es muss wohl an der besonderen Beschaffenheit des Eisens liegen, das sich in Windeseile passgenau formen und schärfen lässt. Und bestimmt auch zu einem maßgeblichen Teil an den ominösen Wichtelmännchen, die Tag und Nacht die Schmelzöfen und Schmiedefeuer beheizen. Freilich holzen sie dafür nicht die ausgedehnten Wälder ab, sondern sammeln Äste und Zeige und Spinnenbeine. Niemand dankt ihnen für ihre geheime Arbeit, die sie an das Volk Siebenwinds verrichten! Dabei sind die Wichtelmännchen ein enormer Indikator für die Wirtschaft der Insel; oder wer bei Astrael auch immer für diese Dienstleistung verantwortlich ist. Dieser Umstand macht die Leute auf jeden Fall ausgesprochen faul. Dies mag erklären, warum es beinahe keine Notdurftstätten und öffentlichen Badeanstalten gibt: Man müsste sie ja putzen!
Da poliert man doch viel lieber sein prestigeträchtiges Schwert den lieben langen Tag. Und wem die stählernen Haueisen zu schwer sind, der schnitzt an seinem hölzernen Totschläger herum. Man erzählt sich, die diebischen Elstern klauten inzwischen diese funkelnden scheinbaren Kostbarkeiten. Erst neulich soll eine mit einem Dolch im Schnabel im Fluss ersoffen sein, weil sie sich nicht von dem ergaunerten Schmuckstück trennen wollte. Vielleicht hatte jedoch lediglich ein Jäger den vom Schicksal gemarterten mutmaßlichen Langfinger auf der Jagd nach Gefieder erschlagen und sein Mordwerkzeug im Uferbereich verloren, als er die Leiche entsorgte. Bleibt zu hoffen, dass er wenigstens eine möglichst ergiebige Ausbeute an waffentauglichen Federn gemacht hat. Also vielleicht ein halbes Dutzend. Man kann es den Weidmännern aber gewiss nicht zum Vorwurf machen, dass sie so brachial umgehen. Würden die Vögel stillhalten, öfter an Mausern leiden oder wer weiß wie ihre Tracht verlieren, dann müsste man sie auch nicht dafür umbringen. Wer weiß, vielleicht zöge eine Elster es auch in Betracht, jemandem ob seines Ringes die Hand abzupicken oder gar gleich die Kehle zu attackieren, um mit dem Prunk ihr Nest zu zieren.
Das Los von Siebenwinds Vögeln ist in Anbetracht der interessanten Wechselbeziehungen außerordentlich faszinierend. Sie müssen sterben, um den größeren Säugern den Tod erst zu ermöglichen. Dies gewährt durch Felle und Fleisch das Überleben der Völkerscharen, ohne die gar kein Bedarf daran bestünde, was dem Federvieh eine höhere Lebenserwartung einbrächte. Aber mal ehrlich zu sich gedacht: Was sind schon ein paar Geflügel und Bären gegen einen kuscheligen Pelz für die nahenden kalten Tage des Morsans? Manchmal muss man Prioritäten setzen. Dass man es da nicht allen recht machen kann, ist ein einkalkulierbares, aber für die meisten Menschen verkraftbares Dilemma. Auf gleichem indirekten Wege wie Ventus’ Lieblinge der Lüfte für den Kaminvorleger, so scheiden zwangsrekrutierte Soldaten für den König dahin. Ja, sie verdienen unseren lieben Dank, die possierlichen Bewohner des Himmels. Sie wirken gleich viel frommer und altruistischer, gar niedlicher und schöner. Ihr Dasein erstrahlt förmlich in einem ganz anderem, der Verehrung würdigen Licht. Und auch, wenn sie für unser Wohlergehen sterben müssen, tun sie dies immerhin für einen guten Zweck…
IX. Kapitel
Das Ende; ohne Pointe.
Es war die läuternste Tracht Prügel, die Hali je verspürt hatte, wachrüttelnde und befreiende Hiebe auf Nase, Stirn und Kiefer, verheißungsvolles Zorngebrüll einer Stimme aus der Vergangenheit. Auf der anderen Hand aber war es wie ein (schlechter) Traum, eine Wahnvorstellung. Doch die Dresche war ebenso wahrhaftig und real wie jener Peiniger, einer der Totgeglaubten, der Bruder von Halis Ehefrau, welche er im Kriege umgekommen unter Schutt und Asche ihres Dorfes zu wissen gedacht hatte. Welch ein Irrtum. Er war gekommen, um Hali zu holen, denn er wurde gebraucht. Akora hatte recht gehabt, auch, wenn Hali es ihr – gerade in dieser empfindlichen Angelegenheit – nicht gegönnt hätte. Alles, was er sich in den vielen Monden auf der Insel erarbeitet, erkämpft und gewonnen hatte, all das ließ er binnen zwei voller Stunden stehen und liegen, gab Schlüssel, Geld und Gut ab, Amt und Rang, Ordensrock und Wappenarmband. Alles. Alles außer ein paar Münzen, einem Sack voller Fressalien und seinem Essbesteck.
Das Gefühl, das ihn befing, war merkwürdig. Einerseits der mulmige Schmerz, die Nachdenklichkeit ob der Entscheidung, der plötzliche Abschied. Er ließ Freunde zurück, gute Freunde. Wie es ihnen ging, als er seine Abreise in die Vergangenheit verkündete, das konnte er nur zu gut nachempfinden, war es doch noch gar nicht lange her, dass Nithavela in ihre Heimat gefahren war. Trotz dieser bedrückenden Bekümmernis fand er neue Hoffnung, Aufbruchsstimmung, ja beinahe Euphorie an sich. Wie eine zweite Chance kam es ihm vor, dass Hermia noch lebte. Wie ein Wink des Schicksals, eine Güte Vitamas. Auf in ein neues Abenteuer, denn das Leben ist noch lange nicht vorbei und Totgeglaubte leben lang’!
Hier ist alles zu Ende. Ohne weitere Erklärung, ohne epischen Abschluss. Und ohne Pointe.
Ein Lied auf Dorion Hali.
Zitat:
Worte ungehört verhallen
Hättest du geschwiegen doch
Die Einsamkeit mit eisig Krallen
Bewahrt dich vor dem Ärgsten noch
Ein Blick, ein Lächeln nur verzagt
Bringt dir den Trost für kurze Zeit
Als hättest du es nie gesagt
Vergeht dein Schwur in Ewigkeit
Worte ungesagt verwehen
Ist nie gesagt auch nie gereut
Du kannst den ersten Morgen sehen
Erinner‘ dich an Freud‘ und Leid
Am alten Platz hältst du still Wacht
Nichts kann dir den Frieden rauben
So zahllos‘ Sterne in der Nacht
Nichts gleicht dem Leuchten ihrer Augen
Eintausend Fragen an die Nacht
Gedanken an den letzten Flug
Eintausend Fragen an den Tag
Sind der Leiden jetzt genug
Gestrandet doch auf grünem Grund
Ein neues Licht, wenn schwach auch nur
Der Silberschein des Morgensterns
Und meine Seele wird gesund…
Titel: Gestrandet Interpret: Seelenthron Album: Heimkehr